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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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treuer deutscher Sohn für seinen geliebten Kaiser und sein geliebtes Vaterland« wurde der achtzehnjährige Otto aus einem Leben voller Rätsel verabschiedet, für deren Lösung ihm nicht die Zeit geblieben war. Unterschrieben war die Anzeige von seinen »liebenden Eltern Johann Isidor Sternberg und Frau Betsy geborene Strauß«, die der Leserschaft versicherten, ihr unvergessener Sohn würde auf immer »lebendig in ihren Herzen« bleiben. Die drei »dankbaren Geschwister« wurden namentlich genannt.
    »Dankbar wofür?«, fragte Erwin. »Dass eine einzige Sekunde gereicht hat, ihn auf immer tot zu machen? Oder dass er so blöd war, sich freiwillig zu melden?«
    Die Trauerstimmung im Haus verwehrte es dem Vater, den Sohn, der nun sein Stammhalter war und dessen Realitätsbewusstsein und Spitzfindigkeit ihn künftig noch mehr irritieren sollten, als es Ottos Phantastereien und Absenzen getan hatten, zu maßregeln. Ohnehin waren Johann Isidor und Betsy über den Anlass von Ottos Tod hinaus bestürzt. Sowohl der Setzer beim »General-Anzeiger« als auch der von der »Frankfurter Zeitung« hatten ohne Rückfrage mit den Auftraggebern hinter Ottos Namen das in Todesanzeigen gängige Kreuz gestellt. Bei den jüdischen Lesern hätte diese Gepflogenheit der bürgerlichen Trauerriten den Eindruck erwecken können, Otto – eventuell sogar die gesamte Familie Sternberg – wäre zum Christentum konvertiert.
    Schon aus diesem Grund nahm sich Johann Isidor vor, am nächsten Freitagabend in die Synagoge in der Friedberger Anlage zu gehen, um für seinen erstgeborenen Sohn das traditionelle Totengebet zu sprechen. Zu seinem Erstaunen tat er dies, was sonst in assimilierten Familien kein selbstverständlicher Brauch ist, ein ganzes Jahr lang. Trotzdem sprachen ihn mehrere Männer – sowohl in der Synagoge als auch im Postkartenverlag und in der Bank – noch nach Wochen auf das Kreuz in der Traueranzeige an. Selbst Doktor Meyerbeer, der jetzt Betsys Zustand wegen öfters in die Rothschildallee kam, machte eine unpassende Bemerkung.
    Von beiden Zeitungen wurden je zwei Kopien beschafft – eine für das Familienlogbuch mit dem feinen Goldschnitt, das die belesene Frau des Hauses seit der Begegnung mit Thomas Manns »Buddenbrooks« nun schon vier Jahre lang führte. Sie gewährte nur ihrem Mann Einsicht und wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass die Zwillinge jedes Wort der Chronik gelesen hatten. Die zweite Anzeige wurde für den Rundbrief an die Verwandtschaft mit der Bitte um Weiterleitung auf ein cremefarbenes Stück Büttenpapier geklebt. »Ich hab keine Kojech, es der gesamten Mischpoche einzeln mitzuteilen«, erklärte Johann Isidor seiner Frau. Dieser eine Satz und noch mehr der Umstand, dass er bei der Sprache seines Vaters Zuflucht nahm, was er sonst nur in Momenten höchster Erregung tat, waren der einzige Hinweis auf seinen wahren Seelenzustand. Johann Isidor Sternberg, der seit dem Tag der Mobilmachung und der Balkonrede seines Kaisers für den Sieg der deutschen Sache gebetet und der gefleht hatte, man möge es auch ihm gewähren, den süßen Tod fürs Vaterland zu sterben, haderte mit dem Schicksal.
    »Ich hatte nicht einmal richtig Zeit, um meinen Jungen kennenzulernen«, seufzte er am Abend desselben Tages, als er das Licht seiner Nachttischlampe löschte und in einem unbewachten Augenblick eine winzige Kammer seines Herzens öffnete.
    »Nur achtzehn Jahre«, erwiderte Betsy. Im Schutz der Dunkelheit nahm sie Revanche für die großen Männerworte in ihrer Ehe. Nie würde Johann Isidor erfahren, dass seine Frau, die ihm auf immer Gehorsam und Gefolgschaft geschworen hatte, jede Nacht um eine Tochter betete – eine Tochter, von der niemand erwartete, dass sie mit drei Jahren Zinnsoldaten über das Parkett marschieren und mit achtzehn ihr Leben auf dem Feld der Ehre ließ.
    Eine Traueranzeige durfte Victoria behalten. Jettchen klebte sie auf ein Stück Pappe; in Blockbuchstaben schrieb sie »Unserem unvergessenen Otto«, den Namen der Zeitung und das Erscheinungsdatum unter den Ausschnitt. Ihre Großnichte verzierte das Werk mit einem Magen David in roter und Zeichnungen von zwei Chanukkaleuchtern in grüner Tusche. Die Collage stellte sie zu Füßen des Puppenjungen in feldgrauer Uniform. Der war eigens zur Bewachung der kostbaren Devotionalie aus der Verbannung heimgeholt worden. Beim Eintreffen der Todesnachricht war er in Ungnade gefallen und in einen grünen Beutel gestopft worden, der noch ein halbes Jahr

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