01 Das Haus in der Rothschildallee
Rüschen abscheulich fand. Die waren nicht Fisch und nicht Fleisch und sahen alle aus, als seien sie aus ausrangierten Gardinen geschneidert worden. Keine gute Reklame für einen Mann, der sein Vermögen im Stoffhandel gemacht hatte.
»Irgendwann hättest du es doch erfahren«, sagte Johann Isidor. »Außerdem finde ich es ganz in Ordnung, dass ich mich nicht an Ottos mutigen Wunsch gehalten habe, ihn allein losziehen zu lassen. Die Vorstellung, mit meiner Aktentasche aus dem Haus zu gehen und auf einer Parkbank die Zeit totzuschlagen, während mein Sohn in den Krieg zieht, war mir doch zu fremd. Da hat mein Herz gestreikt. Mein jüdisches Vaterherz. Ohne Abschied, ohne ein Wort, das bleibt. Der Junge wusste ja gar nicht, was er sagte und worum er uns gebeten hat. Das muss ihm Meister Theo Berghammer gesteckt haben, der pfiffige kleine Teufel, der nun mit seinem großen Maul und seinem teuren Fotoapparat dem Vaterland dient. Berichterstatter Kanonier Theodorich Rudolf Berghammer vom Ersten Regiment der Drückeberger meldet sich zum Dienst, Herr Hauptmann.«
»Ich verstehe kein Wort. Was um Himmels willen willst du mir sagen? Und was hat das alles mit Theo zu tun? Den habe ich doch gerade erst gestern gesehen.«
»Eben«, sagte Johann Isidor. Ihm ging auf, dass er zu früh gesprochen und zu viel gesagt hatte und dass er gerade dabei war, einen gewaltigen Narren aus sich zu machen, einen Idioten, der sein Maul nicht halten konnte und der mit beiden Beinen ins Fettnäpfchen gesprungen war. Kein Wunder, dass ihn niemand mehr haben wollte. Noch nicht einmal mit Ärmelschonern in einem Hinterstübchen durfte er sitzen. Wer hatte in einem Krieg schon Verwendung für einen debilen Schwätzer? Was nutzte Männermut, wenn die Zeit verstrichen war, um sich als Mann zu bewähren? Otto hatte also seiner Mutter nicht geschrieben. Die Gute war unschuldig wie eine Jungfrau. Sie wusste von nichts und hätte nie etwas geahnt, doch für ihren oberschlauen Ehemann war es zu spät zur Umkehr. Die Brücke über den Fluss war eingestürzt.
Er versuchte, seine Verärgerung hinunterzuschlucken, ohne dass Betsy argwöhnisch wurde. »Das kann doch nicht so schwer sein«, sagte er. Mit der Andeutung eines Kopfschüttelns ließ er wissen, dass er seinerseits nun nicht mehr im Bilde war. »Ich bin einfach zum Ostbahnhof gegangen und habe dort auf meinen Sohn gewartet.«
»Wann? Was für ein Ostbahnhof?«
»Mein Gott, Betsy, guck doch nicht so erschrocken. Man könnte meinen, ich hätte dir dein letztes Hemd gestohlen. Es gibt nur einen einzigen Ostbahnhof in Frankfurt, und von dem ist unserer Otto abgefahren. Zunächst nach Hanau und wahrscheinlich von dort ziemlich bald weiter. Soweit ich das mitbekommen habe, war es jedenfalls so geplant. Es waren übrigens eine ganze Menge Väter da. Und kaum Mütter. Du kannst also ganz beruhigt sein. Es hatte alles seine Ordnung.«
Von dem Augenblick an, da ihr Mann sein Taschentuch herausholte und sich mit hektischen Bewegungen die Stirn abrieb, als würde er einen entlaufenen Dieb jagen, dauerte es nur zwei erregte Herzschläge. Da hatte Betsy begriffen, dass der Vater von seinem Sohn hatte Abschied nehmen können und die Mutter nicht. Der Brief fiel ihr ein, den sie Otto an seinem letzten Abend zu Hause geschrieben hatte; sie erinnerte sich, wie sie den Tornister neu gepackt hatte. Den alten grauen Tornister von den Schulwandertagen. Mit dem Fleck vom Himbeersaft, der auch mit der guten Kernseife vom Sandweg nicht mehr herausgegangen war. Betsy sah sich Ottos Gebetsschal aus dem Schrank holen, schwarzer Samtbeutel mit einem sechszackigen Stern – der Magen David – in Goldfaden aufgestickt. Die Mutter, die dem Sohn einen Gebetsschal in eine Welt mitgegeben hatte, in der allein die Waffen über Tod und Leben entschieden, war ganz sicher, sie würde zu weinen anfangen. Schon schmerzte die Kehle, die Möbel schwankten in einem Nebel der Trauer, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Das letzte Sonnenlicht wurde grau, doch es geschah nichts.
Betsy Sternberg brauchte kein Taschentuch, nicht den Trost einer starken Hand. Sie war nie schwach gewesen, sie hatte immer eine Scheu gehabt, ihrem Mann Tränen zuzumuten. »Die Tränen einer Frau sind Erpressung«, hatte der vor Urzeiten in einer jener kleinen Streitereien gesagt, die für junge Ehepaare typisch sind. Das war kurz vor Ottos Geburt gewesen, und Betsy hatte sich eine Wiege mit einem Himmelbett in den Kopf gesetzt und der künftige Vater entschieden:
Weitere Kostenlose Bücher