01 Das Haus in der Rothschildallee
Eltern an diesem Sonntagnachmittag so wenig Einwände gegen die Geschäfte ihrer Tochter gemacht hatten.
Obwohl in den Zeitungen regelmäßig zu lesen war, die Post würde so gut funktionieren wie in Friedenszeiten und deutsche Soldaten wären sehr viel anhänglicher und familienbewusster als der Feind, trafen im Oktober von Otto nur zwei Feldpostkarten in Frankfurt ein, allerdings zwei, die die ganze Familie entzückten. Die erste zeigte deutsche Soldaten in einem Unterstand, sie saßen an einem Tisch mit einer karierten Decke, spielten Karten und tranken Bier. Victoria durfte die zweite Karte mit bunten Stecknadeln an der Wand ihres Zimmers befestigen. Sie zeigte einen barfüßigen Knaben mit französischer Offiziersmütze, Schnuller und Gewehr und trug die Unterschrift »Frankreichs jüngstes Aufgebot«.
Beide Karten waren im September geschrieben worden. Mit Datum vom 5. teilte Otto mit: »Morgen ist feldmäßige Schießübung, übermorgen fahren wir an die Front. Ich darf nicht sagen wohin. Alle sind lustig, ich freue mich sehr auf meine Feuertaufe.« Am 27. September schrieb er: »Zu Rosch Haschanah gab es einen Gottesdienst für die Juden. Danach verteilte der Rabbiner Brot, Wurst und ein extra Gebetbuch fürs Militär. Brot und Wurst habe ich mit den Kameraden geteilt. Wenn Ihr mir schreibt, schickt mir dauerhafte Esswaren, ein Mittel gegen Durchfall und ein Bild von Euch. Alle hier haben Fotos von der Familie. Euer liebender Sohn und treuer Bruder Otto.«
Das waren die letzte Worte von Kanonier Otto Wilhelm Samuel Sternberg. Er fiel am 11. Oktober 1914 bei Ypern. Die Mitteilung traf am 9. November um vierzehn Uhr in seinem Vaterhaus ein; sie war von Leutnant Henning von Brauweiler unterzeichnet worden. »Ihr Sohn fiel auf dem Feld der Ehre«, hatte der geschrieben. »Er gab sein Leben für Kaiser und Vaterland. Sie können stolz auf ihn sein.«
Es war das erste Mal, dass Victoria ihre Mutter weinen sah. Sie hörte sie ihren Vater »Bist du nun zufrieden?« fragen, und sie wunderte sich, dass der keine Antwort gab und in sein Arbeitszimmer ging. Sie rannte in die Küche. Josepha kniete vor dem Herd und bekreuzigte sich. Als sie sich in eine unbenutzte Damastserviette schnäuzte, schloss Victoria entsetzt die Augen. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Balkon. So leise wie möglich öffnete sie die Tür. Eine Zeit lang stierte sie auf die Tränenden Herzen.
Die Wunderblumen mit der Zauberkraft, vor jeder Menschennot zu schützen, waren verblüht, einige Blätter aber noch grün und fest. Wie im Sommer stand der Tontopf, auf dem Otto für seine kleine Schwester in verschnörkelten Blockbuchstaben »Königin Victoria« gemalt hatte, auf dem Blumenhocker mit den gelben Kacheln. Victoria zählte bis zehn. Sie war sicher, sie würde bei der Zehn, genau wie immer, Ottos Stimme hören. »Du musst beim Wünschen zum Himmel schauen, Vicky, Gott ist schnell gekränkt«, hatte er immer gesagt. Und sie am Ohr gezupft. Ganz leicht nur, wie ein Kind vom Wind.
Die Welt blieb still. Nur ein Rabe krähte. Victoria nahm den Blumentopf mit den rot leuchtenden Buchstaben hoch. Einen Moment hielt sie ihn über ihrem Kopf. Dann schleuderte sie ihn vom Balkon.
7
DIE ENTSCHEIDUNG
Frankfurt 1914
Immer mehr Familien mussten den Tod von Ehemännern, Söhnen und Brüdern bekannt geben. Gleichzeitig kam es zu der ersten Verknappung von Papier. So konnte die Traueranzeige für den am 11. Oktober gefallenen Kanonier Otto Wilhelm Samuel Sternberg erst zwei Monate später im Frankfurter »General-Anzeiger« erscheinen. Drei Tage danach wurde sie in der »Frankfurter Zeitung« veröffentlicht. Obwohl es im ersten Kriegsjahr noch durchaus üblich war, konnte sich Johann Isidor nicht entschließen, die ihm von der Inseratenabteilung des »General-Anzeigers« vorgeschlagene Zeile »Gottes Wille ist geschehen…« über den Text setzen zu lassen. Er begnügte sich mit dem zeitgemäßen Bekenntnis deutscher Patrioten zu Wilhelm II. Im »General-Anzeiger« stand Ottos Nekrolog zwischen zwei Anzeigen, in denen der Tod von Unteroffizieren beklagt wurde, die ihr junges Leben ebenfalls bei Ypern gelassen hatten. Auch in der »Frankfurter Zeitung« wurde die Traueranzeige der Sternbergs repräsentativ platziert – neben der eines stadtbekannten Professors der Universität, der allerdings fünfzigjährig in seiner Heimatstadt ein wenig glanzlos an den Folgen eines Fahrradsturzes gestorben war.
Mit den Worten »Er fiel auf dem Feld der Ehre als
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