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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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zuvor für die Aufbewahrung von Ottos Turnzeug gedient hatte.
    Victoria war begeistert gewesen, ihren Namen in der Zeitung zu sehen. Als ihr Vater ihr die Anzeige zeigte, vergaß sie für einen peinlichen Moment, in dem ihre Mutter gleichzeitig vorwurfsvoll den Kopf schüttelte und die Hände wrang, dass im Hause Sternberg nicht mehr gelacht wurde. Sie machte gar einen kleinen Freudensprung, hätte um ein Haar im Esszimmer den Stuhl des Familienoberhauptes umgerissen und gebrauchte ein unpassendes Wort, das sie erst am Vortag vom zwölfjährigen Bruder ihrer Schulfreundin Mariechen gelernt hatte.
    Erst am Tag darauf, durch eine Bemerkung von Erwin, wurde Victoria klar, dass ihr geliebtes Tantchen nicht in der Anzeige erwähnt worden war. Jettchen saß im Schaukelstuhl am Fenster, ein aufgeschlagenes Buch auf ihrem Schoß. Victoria berührte ihren Kopf so behutsam und zärtlich, als wüsste sie um die Zerbrechlichkeit einer alten Frau, die nicht weiter als bis zum Abend zu schauen wagt. »Du wirst«, seufzte die sechsjährige Trösterin, »nie in der Zeitung stehen. Du hast ja nur Töchter, und Mädchen können nicht im Krieg sterben.«
    »Sie haben mich sterben lassen«, sagte Jettchen. Sie war so aufgewühlt, dass ihre Haut brannte wie in ihren Mädchentagen. Bilder voller Schmerz rasten auf sie zu. Die zierlichen, liebenswürdigen Töchter mit spitzenbesetzten Schürzen und Schleifen in der Farbe ihrer Augen liefen mit einem Strauß Gänseblümchen auf die Mutter zu, doch drehten sie in dem Moment ab, da Jettchen ihre Arme ausbreitete. »Nein«, flüsterte sie und wehrte die Bedrängnis der Erinnerungen mit Händen ab, die nicht mehr zuzugreifen verstanden, »nicht noch einmal.«
    »Otto«, kreischte der Papagei. Er hackte mit dem Schnabel an die Stäbe seines Käfigs.
    Jettchen begann zu weinen, doch ihre Güte ließ die Trauer nicht zu. Sie rieb die Tränen aus ihren Augen, als sie Victorias erschrockenes Gesicht sah. Die Sechsjährige spürte als Einzige, wie sehr sich ihre geliebte Tante vom Familienleben ausgeschlossen fühlte, seitdem Trauer das Haus Sternberg regierte. »Du darfst nicht weinen«, beruhigte sie Victoria, »du hast ja mich. Und Otto«, fügte sie hinzu. Sie war verwirrt, als sie den Namen aussprach, den jeder im Haus zu nennen vermied, und deutete erschrocken auf den Papagei. »Der«, sagte das Kind. »Ich hab doch nur ihn gemeint.«
    An diesem Tag beschloss Jettchen, ihren zwei Töchtern nur das zukommen zu lassen, wozu sie vom Gesetz verpflichtet war, und das übrige, beträchtliche Vermögen ihrer Großnichte Victoria Sternberg zu vermachen. »Hat dein Papa einen Notar?«, fragte Jettchen, denn sie war trotz ihrer Jahre und der Enttäuschungen, die ihr Herz zerrissen hatten, eine resolute Frau, die nicht zögerte, wenn es galt, einen Entschluss in die Tat umzusetzen. »Hat dein Papa denn keinen Notar?«, wiederholte sie.
    »Er ist doch immer erkältet«, wunderte sich Victoria. »Ich glaube, deshalb darf er auch nicht Soldat werden. Warum lachst du denn?«
    »Ohne dich und Josephas Kartoffeln aus Nauheim«, begriff Jettchen, »wäre das Leben doch keinen Pfifferling wert. Komm, wir zwei beiden Hübschen gehen in die Stadt und verjubeln unseren letzten Groschen.«
    »Dürfen wir denn das?«
    »Ich kenne ganz andere Leute, die das tun.«
    Zum ersten Mal seit dem Eintreffen der Todesbotschaft zogen Tante und Nichte ihre Ausgehkleider an. Bei der einen wippten eine moosgrüne Samtpelerine und die schwarz schillernde Hutfeder aus dem Salon der bekanntesten Darmstädter Putzmacherin, bei der anderen der Lodenmantel – erst in der Vorwoche von der geschickten Mutter mit einem Stück eines weinroten Plaids an den Ärmeln und am Saum verlängert. Sie tauchten, wie im Baden-Badener Märchensommer, in eine Welt ein, die weder die Beschwernisse des Alters noch den erhobenen Zeigefinger für die Jungen kannte, keine Tränen von Frauen in nachtschwarzen Blusen und nicht den Tod derer, die das Banner der Hoffnung in die Schützengräben getragen hatten.
    Schon auf der Höhenstraße, beim Blick zurück die letzten der blütenfrohen Geranien auf dem eigenen Balkon noch in Sicht, begann der Zauber zu wirken. Jettchen, die in ihrer Jugend keine Darmstädter Premiere ausgelassen hatte, summte die Melodie von »Schenkt man sich Rosen in Tirol« aus dem »Vogelhändler«; sie erinnerte sich Wort für Wort an die Texte der Lieder und erzählte ihrer aufmerksam lauschenden Nichte, die bisher nur mit dem deutschen

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