01 Das Haus in der Rothschildallee
wünschten sie sich, schon weil sie die Entfremdung zwischen Jettchen und ihren christlich verheirateten Töchtern erlebten, jüdische Schwiegersöhne. Trotzdem sehnten sie sich in ihren Tagträumen nach einer Welt, in der die Frage nach der Konfession nur mit »evangelisch« oder »katholisch« beantwortet wurde.
Sie schämten sich nicht ihrer Herkunft, doch wenn sie ihre Söhne in die Synagoge schickten, wurden die ermahnt, den Kopf erst dort und nicht etwa schon auf der Straße zu bedecken und nirgendwo »unangenehm aufzufallen«, denn »das fällt ja auf uns alle zurück«. Sie hätten gern nichtjüdische Freunde gehabt, aber der Traum scheiterte früh. Trotzdem machten sich Johann Isidor und Betsy oft Gedanken, ob nicht wenigstens ihren Töchtern der Sprung in eine Gesellschaftsschicht gelingen könnte, der die Ängste einer Minderheit so fremd waren wie die Essgewohnheiten der Indianer.
Zu Pessach wurden die Matzen ins Haus geschafft, ohne dass es die Nachbarn sahen. Zu Weihnachten füllte Josepha die Gans mit Maronen.
Die Hausfrau, die in ihrem Vaterhaus gelernt hatte, einen süßen Karpfen zuzubereiten, den Kren aus Roter Beete und Meerrettich zu mischen, den Mohnzopf für den Sabbat zu flechten und am Freitagabend den Segensspruch für die Kerzen zu sprechen, schob das Blech mit Lebkuchen in den Herd und drohte Victoria mit dem strafenden Nikolaus, wenn sie ihr Zimmer nicht aufräume.
Im Salon, noch keinen Meter von den Sabbatleuchtern der Großeltern entfernt, lagen Pfeffernüsse und Bethmännchen in einer Schale mit Tannendekor. Am Heiligabend hatten die Kerzen an einem Weihnachtsbaum gebrannt, der bis zur Decke reichte. Unter ihm arrangierte die Hausfrau, die es auch auf den Nebengleisen ihres Lebens ästhetisch liebte, die Geschenke zu einem Stillleben, das selbst ihrer kritischen Tochter Clara ein bewunderndes »Ah« zu entlocken pflegte.
»Für unser Personal, das soll sich doch nicht ausgeschlossen fühlen, nur weil es in einem jüdischen Haushalt arbeitet«, erklärte Frau Betsy, als ihr Vater sie unglücklicherweise einmal im Dezember aufgesucht hatte. »Und die Kinder sollen sich ja auch nicht zurückgesetzt fühlen, wenn ihre Schulkameraden Weihnachten feiern.«
Unangenehm deutlich befragte der gutmütige Verständnisvolle seine zu Traditionsbewusstsein erzogene Tochter, wohin ihr Weg ging und was sie sich vom Ziel versprach. »Du solltest«, empfahl er ihr beim Abschied, »beizeiten ein goldenes Kalb bestellen, mein Kind. Die werden bestimmt knapp, wenn noch mehr von uns so denken wie du. Und dann werden sich deine armen Kinder furchtbar ausgeschlossen fühlen.«
Aufgebracht suchte Betsy Trost bei ihrem Mann, doch Johann Isidor goss auch noch Öl in den Schwelbrand. Er kniff seine Gattin derb in die Wange, lachte so anzüglich, als hätte sie ihm einen Männerwitz erzählt, und sagte: »Ich bring’s einfach nicht fertig, dem alten Knaben übel zu nehmen, dass er die Wahrheit ausspricht.«
Mit dem gefälligen Satz von der Rücksicht auf die nichtjüdischen Angestellten war sich Madame Sternberg mit unzähligen Gleichgesinnten einig. Juden, die es nach Assimilation drängte, belächelten ihre orthodoxen Glaubensbrüder und eine Religion, die sich weigerte, sich der modernen Zeit anzupassen; sie waren stolz auf die Freiheit, zu der sie selbst gefunden hatten, und sie wünschten sich blondes Haar und blaue Augen und träumten vom Zutritt in eine Gesellschaftsschicht, die selbst ihren Hausdienern den Umgang mit Juden untersagte. Ungeniert schielten die, die es in eine Welt drängte, die sie nicht haben wollte, in die Kirchen. Mit Lust zitierten sie Heinrich Heines Wort, die Taufe sei »das Entreebillett zur europäischen Kultur«, doch den wenigsten war bewusst, dass er nach seiner Taufe auch gesagt hatte: »Jetzt bin ich als Jude und Christ verhasst.«
Die deutschen Juden, die an das glaubten, was ihnen ihre Illusionen vorgaukelten, nannten ihre Kinder Siegfried, Sigismund und Dietlinde. Sie steckten sie in Trachtenkleider und Matrosenanzüge und zeigten ihnen gerührt die bronzene Germania vom Niederwalddenkmal. Am Sedanstag sangen sie mit den Kleinen aus vollem Herzen »Der Kaiser ist ein lieber Mann« und ließen sie zu Weihnachten mit den Hausangestellten in die Kirche gehen, damit sie die Krippe bewunderten. Kamen Eltern zu Besuch, die noch die Speisegesetze einhielten und Sohn und Tochter an ihre Ursprünge erinnerten, ließen die Assimilierten geniert den Schinken verschwinden und
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