01 Das Haus in der Rothschildallee
fragten so unauffällig wie möglich nach dem Tag ihrer Abfahrt. Jeder, der sich dem geliebten deutschen Vaterland an die Brust warf, war der festen Überzeugung, dieses Vaterland würde seine jüdischen Bürger nie mehr ausgrenzen und sie für immer an sein Herz drücken – Hauptsache, die Juden entledigten sich der eigenen Wurzeln und passten sich ihrer nichtjüdischen Umwelt an.
Ab dem 9. November 1914 indes, da Johann Isidor vom Soldatentod seines Erstgeborenen erfahren hatte und aus einem Zwang heraus, den er sich bis zu seiner eigenen Todesstunde nicht zu erklären vermochte, jeden Freitagabend in die Synagoge ging und dort Ottos gedachte, änderte sich das Leben im ersten Stock der Rothschildallee 9. Die Posaunenengel vom Weihnachtsbaum wurden verschämt auf den Speicher gebracht, die Kinder nicht mehr zum Singen von Weihnachtsliedern ermutigt. Aus der Verbannung erlöst wurde der achtarmige Silberleuchter, den Johann Isidor zu seiner Bar-Mizwa bekommen hatte. Fortan wurde der Leuchter wieder zu Chanukka mit Kerzen bestückt. Das Chanukkafest fällt in die Weihnachtszeit.
»Und erinnert an den Sieg der Makkabäer gegen die Hellenen, die den Juden ihren Glauben mopsen wollten«, erklärte Erwin der verwirrten Josepha. »Mein Vater hat nur ein paar Jahre lang vergessen, dass das geschehen ist. Jetzt tut ihm das Missverständnis schrecklich leid, und er will ein neuer Mensch werden. Und wir müssen auch neue Menschen werden und wollen jetzt immer unsere eigenen Feste feiern. Du brauchst uns also zu Weihnachten keine Gans mehr zu braten.«
»Als ob es noch Gänse zu kaufen gäbe! Hör endlich auf, dich über eine alte Frau lustig zu machen, du frecher Bengel!«
»Ich mach’ mich nicht über dich lustig, Josepha. Ich suche nur einen Menschen, der sich mit mir wundert.«
»Und da kommst du ausgerechnet zu mir. Ich wundere mich schon lange über nichts mehr.«
Betsy erfuhr nie, was bei ihrem Mann den Sinneswandel bewirkt hatte, der sie gleichermaßen verwirrte und ängstigte. Selbst wenn sie ihn nachts stöhnen hörte, dämmerte ihr nicht, welche Gespenster ihn heimsuchten. Zu keinem Zeitpunkt ahnte sie, dass er sich zu Sünden bekannte, die sie sich noch nicht einmal vorstellen konnte. »Du solltest wieder Bullrich Salz nehmen«, riet sie ihm nach den Nächten seiner Qual, »das hat dir immer so gut geholfen.«
»Eine gute Idee«, stimmte Johann Isidor ihr dann zu, und beide schauten sie beim Sprechen aneinander vorbei und zum Fenster hinaus.
Er war nicht an den Leiden des Körpers erkrankt. Es waren Seele und Gewissen, die ihm die Ruhe nahmen. Immer wieder stellte sich der Gepeinigte die gleiche Frage: War Ottos Tod die Strafe Gottes für einen Vater, der seinen Sohn nicht zu glauben gelehrt hatte? Tag für Tag las er aus Betsys geröteten Augen den gleichen Vorwurf: Er war ein Vater, der einen Achtzehnjährigen auf dem Altar der eigenen patriotischen Ideale geopfert hatte. War er Otto überhaupt je Vater gewesen in mehr als dem Wort? Hatte er ihn gekannt, geliebt, ihn den Vaterstolz fühlen lassen, der ihm gebührte?
Johann Isidor Sternberg war es, als stünde die Anklage gegen ihn auf jeder Hauswand, als wäre sie an jeden Baum genagelt. Er hatte seinen Sohn stets nur ermahnt, getadelt, gemaßregelt, von ihm Respekt und Gehorsam gefordert. Nie hatte dieser Vater ohne Liebe die Enttäuschung verborgen, dass sein Stammhalter nicht so werden würde wie er, so fleißig, strebsam, ausdauernd und erfolgreich, der Mann, vor dem alle den Hut zogen, weil er eine gesegnete Hand für das Leben hatte. Strafte nun Gott einen Vater, der nicht beizeiten erkannt hatte, dass Gleichgültigkeit und Anmaßung Sünde sind?
Die Reue des Gebrochenen war gewaltig. Das Gelöbnis, noch einmal seinen Weg zu gehen, kam von einem Mann, der sich nicht scheute, den Kopf zu senken. Erwin aber, klüger, empfindsamer und schon mit vierzehn Jahren reifer, als sein gefallener Bruder es hatte werden dürfen, durchschaute bereits den ersten väterlichen Versuch, an ihm die Vergehen wieder gutzumachen, die er an Otto begangen hatte. Was denn Erwin nach der Schule machen wolle, hatte dieser neue Vater der guten Vorsätze wissen wollen. »Und nach dem Krieg«, rasch hinzugefügt.
»Maler vielleicht«, erwiderte Johann Isidors zweitgeborener Sohn. Er schaute nicht hoch von der Kartoffel, die er gerade in sechs gleiche Scheiben zerteilte und mit Zwiebelsauce benetzte.
»Handwerk hat ja immer goldenen Boden«, lobte der perplexe Vater. Im
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