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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Jahre auf Lebertran und dem morgendlichen Gurgeln mit Salzwasser, auf den verhassten langen Wollstrümpfen und der verpönten Unterwäsche aus juckender Wolle. Besonders an den Tagen, da ihre Kinder sie schon seufzen hörten, ehe sie sich an den Frühstückstisch setzte, und der Vater früh aus dem Haus gegangen war, ließ die Mutter die Zügel schleifen. Es war, als hätte sie niemals auf Prinzipien und Disziplin beharrt, als wäre sie nie energisch und streng gewesen und immer zum Nachgeben bereit. Diskutierte diese Mutter mit den geröteten Augen, die nachts einen nicht fertig gestrickten grauen Schal aus der Schublade holte und an ihren Hals drückte, mit Erwin oder las sie Clara die Leviten, fanden die Gespräche oft ein abruptes Ende. Das machte alle Beteiligten verlegen. Dann kam es vor, dass sich Betsy an die Stirn griff und immer häufiger an die Brust und dass sie fragte: »Wozu auch?« Oder sie sagte mit einer Stimme, die nicht zu ihr zu gehören schien: »Meinetwegen« und: »Von mir aus« – alles Begriffe, die zuvor nicht in ihrem präzisen Wortschatz gestanden hatten. Selbst ihre Jüngste, der sie abends noch immer Geschichten von fleißigen Heinzelmännchen und artigen Glückskäfern vorlas, die fröhliche Sommerfeste mit bunten Lampions feierten, registrierte die Veränderungen des mütterlichen Gemüts. Sie sah auch, dass der Körper der Mutter anschwoll und dass die sich oft wie eine alte Frau bewegte, doch sie wagte noch nicht einmal Jettchen oder Josepha nach dem Grund zu fragen. Trotzdem lernte die Sechsjährige rasch, die Möglichkeiten der neuen Situation zu nutzen.
    Auch an diesem nie mehr zu vergessenen Nachmittag hatte die flexible Taktikerin nicht gezögert, sich aus dem Füllhorn zu bedienen, das Fortuna denen entgegenhält, die den Augenblick der Entscheidung zu ehren wissen. Zärtlich wie ein Krabbelkind und mit dem Lächeln des Unschuldsengels, der sie nicht mehr war, seitdem sie den Glauben an die Wunderkraft der Tränenden Herzen verloren hatte, hatte sie ihre Arme um den Hals der Mutter geschlungen. Große Tochterliebe hatte ihr Victoria beteuert, und zum Abschied hatte sie ihr einen schmatzenden Kuss auf die Stirn gedrückt. Bereits im Treppenhaus – zwischen dem ersten Stock und dem Parterre – hatte das schlaue Füchschen das fügsame Tantchen, das nicht beizeiten gelernt hatte, bittenden Kinderaugen zu widerstehen, über ihren ungewöhnlichen Wunsch aufgeklärt.
    In der Töngesgasse stand in einem Geschäft für Kunst und gehobenen Schulbedarf, das noch einen ansehnlichen Vorrat an solider Vorkriegsware bot, seit drei Wochen ein auffallend prächtiger Griffelkasten im Schaufenster. Selbst eine Mutter, die weder den Groschen ehrte noch die seit Seneca gültigen Erkenntnisse der Pädagogik, hätte ihren Kopf geschüttelt, wenn ihr Kind die Hand nach einem so kostbaren Griffelkasten ausgestreckt hätte. Victoria hatte von der ausgefallenen Preziose durch Mariechen erfahren, für die allerdings nicht die geringste Aussicht bestand, das erlesene Stück aus der Vorkriegszeit auch nur mit dem kleinen Finger zu berühren. Victoria war überwältigt, als sie ihre Nase an die Schaufensterscheibe presste. »So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen«, hauchte sie; sie ließ ihre Tante fühlen, wie laut ihr Herz klopfte.
    Der Schiebedeckel des länglichen, auf einem grünen Samtdeckchen gebetteten Kastens war sorgsam bemalt und lackiert; bunt gewandete Kavalleristen zogen ins Manöver, voran Wilhelm II. in Uniform. Der Kaiser saß, einem Denkmal gleich, auf einem Schimmel. Auch das Pferd – den Kopf erhoben, die Augen groß – war ein künstlerischer Glücksgriff. Selbst Jettchen entflammte, als sie das Prachtstück sah. Von Minute zu Minute steigerte sich ihr Verlangen nach schlauem Handel und Besitz. Der kluge Ladeninhaber gab sich zögernd. Ehrfürchtig leise wies er darauf hin, dass es sich bei dem ausgefallenen Schreibgerät um ein Erbstück handle. »Eine in ganz Hessen bekannte Adelsfamilie hat es mir zu treuen Händen übergeben«, erklärte der, dem es nicht um »das Geschäftliche« ging, sondern »um das Vertrauen, dass mir die hohe Familie entgegengebracht hat«.
    Er hatte graues Haar und, wie Jettchen fand, die viel auf ihre eigene Menschenkenntnis gab, ehrliche Augen. Sie bot wesentlich mehr, als der Händler erwartet hatte, ebenso viele gute Worte. Da der Wert der Mark erheblich geschwunden war und bereits Münzen aus Eisen, Zink und Aluminium im Umlauf waren, schlug

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