01 Das Haus in der Rothschildallee
Victorias einfallsreiche Tante schließlich vor, sich von einem ihrer schmalen goldenen Armreifen zu trennen. Der zögernde Handelsmann nickte endlich Einverständnis. Mit gütigem Lächeln verpackte er das schöne Stück; er lobte Jettchens guten Geschmack und ihr künstlerisches Verständnis. Am Abend lobte er die Kartoffelsuppe, obwohl er nicht gern Kartoffelsuppe aß, und erzählte seiner überraschten Frau, es wäre für ihn ein besonders guter Tag gewesen.
Jettchen streckte ihm zum Abschied ihre Rechte entgegen und hielt Victoria an, einen Knicks zu machen. Nicht einen Augenblick kam ihr der Gedanke, ein Griffelkasten mit dem Bildnis des Kaisers, der in die Helligkeit künftiger Siege ritt, könnte vielleicht in einer Familie, die soeben für diesen Kaiser ihren Hoffnungsträger hatte hergeben müssen, nicht willkommen sein. »Man muss«, resümierte das zufriedene Jettchen auf dem langen Heimweg, »die Feste feiern, wie sie fallen.«
»Ich hab gedacht«, befand ihre wortklauberische Vertraute, »dass nur Soldaten fallen.«
»Dir wird später keiner was vormachen, mein Kind! Du bist ja klüger als ein Junge.«
»Aber nicht klüger als Otto«, entschied die Treue.
Die fröhlichen Weltenwanderer waren so begeistert von ihrem Ausflug und der großartigen Beute, dass sie sich bei der Heimkehr noch nicht einmal die Zeit nahmen, nach Art des Hauses ihre Straßenschuhe gegen Filzpantoffeln auszutauschen. Wie ein marodierender Landsknecht stürmte Victoria in die Küche, das atemlose, erhitzte Jettchen, noch in Pelerine und Hut, hinter ihr.
Die Hüterin des Heims war gerade dabei, das Brot, das ausgerechnet zwei Wochen vor Weihnachten so knapp wie die Kartoffeln zu werden drohte, für das Abendessen einzuteilen. Sie stand in einer weißen Schürze, das große gezackte Messer in der Hand, mit dem Rücken zur Tür und versuchte, einer widerstrebenden Josepha, die abwechselnd auf den Holztisch klopfte und leicht mit dem Fuß aufstampfte, klarzumachen, dass der Rest von der nahrhaften Leberwurst ausschließlich für den Hausherrn zu sein hätte. Johann Isidor hatte an Gewicht verloren und klagte häufig über Magenschmerzen. Nach ihrem vermeintlichen Sieg verteidigte Betsy ihre Ansicht, Erwin und Clara könnten sehr wohl abends Brennnesseltee statt Milch trinken und, ohne Schaden zu nehmen, die mit ungeschälten Pellkartoffeln gestreckte Wurst essen. Der Metzger in der Burgstraße bot sie neuerdings als »fein gewürzte Wurstware« an. Josephas Empörung steigerte sich. »Unser Erwin wächst doch noch«, erregte sie sich, »soll der Bub denn nicht groß und stark werden?«
»In unserer Zeit sind es eher die Schwachen, die mit dem Leben davonkommen. Die Schwachen und die Drückeberger.«
»Schau doch mal«, drängelte Victoria, »schau doch mal, was Tante Jettchen mir gekauft hat.«
Sie zupfte ihre Mutter am Ärmel und scharrte ungeduldig mit den Füßen, holte voller Erwartung den neuen Griffelkasten aus dem weichen Seidenpapier, schob den Deckel vor und langsam wieder zurück. Der Lichtstrahl der flackernden Kerze, die seit Kurzem jeden Abend angezündet wurde, um Strom zu sparen, fiel als sanfter Schein auf den schönen Kopf des kaiserlichen Schimmels.
»Das Pferd galoppiert ganz schnell, wenn ich es ihm sage«, versicherte die Phantasievolle. »Hopp, Pferdchen, hopp.« Sie klatschte in die Hände, summte sich in Stimmung. »Maikäfer, flieg, der Vater ist im Krieg.«
Victoria merkte zu spät, dass die Welt aus den Fugen geraten war. Das Gesicht ihrer Mutter war feuerrot geworden, ihre Lippen bebten, die Stirn war feucht. Wie in Trance schob Betsy den Brotlaib gegen ein gefülltes Wasserglas. Es fiel auf den Steinboden. Der Lärm war gewaltig. Überall lagen Scherben. »Oh«, stöhnte Jettchen, als sie sich bückte, um die erste aufzuheben.
»Lass das!«, herrschte sie Betsy an. Sie schob Jettchen in Richtung der Tür, schlug wütend mit dem Brotmesser auf den Rand einer kleinen Metallschüssel und riss ihrer verblüfften Tochter, die ob des groben, kräftigen Griffs ins Torkeln geriet, den Griffelkasten aus der Hand. Einen furchterregenden Moment sah es für Victoria so aus, als würde diese neue, ungerechte, tobende, Kinder quälende Mutter Jettchens kostbares Geschenk, genau wie zuvor das Glas, auf den Fußboden schleudern. Dann war der Sturm vorbei. Mit der gewohnten Umsicht der sorgsamen Hausfrau stellte Betsy den Kasten auf den Küchentisch.
Sie stöhnte, weil sie der Schmerz zerriss, ließ sich auf
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