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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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den Küchenstuhl fallen und starrte mit Augen, die für Victoria immer fremder und bedrohlicher wurden und drachengrün funkelten, an die Küchendecke. Aus ihrer Brust schien die Luft zu entweichen; sie atmete pfeifend, bemerkte es, hielt inne und bedeckte, scharlachrot vor Scham, mit den Händen ihr Gesicht, doch am Beben der Schultern erkannte Victoria, dass ihre Mutter weinte. Es war, seit dem Tag, da der Todesbrief von der Front in der Rothschildallee 9 eingetroffen war, das zweite Mal, dass dies in Gegenwart ihrer sechsjährigen Tochter geschah.
    »Ich wollte nicht, dass du böse bist«, sagte Victoria verschüchtert. »Es ist doch nur ein Kasten mit einem blöden, blöden Pferd.«
    Sie merkte, dass ihre Mutter sie nicht verstanden hatte, denn Betsy zog das Brot zu sich heran und umklammerte es wie ein Kind, das gestürzt ist und getröstet werden muss. Mit einer weinerlichen Stimme, die ihre Tochter noch mehr erschreckte, als es zuvor die Tränen getan hatten, stieß sie hervor: »Ich hab’ diesen Krieg nicht gewollt. Nie. Und ich will auch nicht noch einen Sohn kriegen, der mir eines Tages schreibt ›Ich freue mich auf meine Feuertaufe‹ und der dann totgeschossen wird wie ein Hase und der nicht einmal ein Grab hat.«
    »Wie ein Hase«, flüsterte Victoria.
    »Nicht«, sagte Josepha. Sie streichelte, was sie noch nie getan hatte, denn sie war immer eine gewesen, die die Grenzen und Schranken zu achten wusste, einen Moment Frau Betsys Kopf. »Nicht jetzt. Nicht vor dem Kind«, sagte sie leise.
    Josepha schaute sich um; sie genierte sich ihrer Kühnheit, band zerstreut ihre Schürzenbänder auf und wieder zu, holte einen Lappen aus der steinernen Spüle, um den feuchten Boden aufzuwischen, begriff, dass sie zuvor die Scherben aufsammeln musste, doch ihre Hände waren noch nicht ruhig genug für die Arbeit. Victorias Augen fielen ihr auf – trotz der Tränen, die noch in ihnen leuchteten, war die Botschaft zu erkennen. Josepha spürte, dass die Tochter die mütterliche Fähigkeit geerbt hatte, das Gras wachsen zu hören. Es machte sie beklommen, dass sie ihr nicht zulächeln durfte. Die Sechsjährige, die vorgab, sie würde nicht merken, wie sich der Leib ihrer Mutter zu wölben begann, und die diese ahnungslose Mutter im festen Glauben ließ, der Storch mit dem roten Halsband und den Babys im Schnabel wäre noch ein Teil ihrer Glaubenswelt, hatte bei Betsys Ausbruch keinen Moment bezweifelt, dass nicht von Erwin die Rede gewesen war.
    Der neue Griffelkasten, den sie, ohne dass es ihre Mutter erfuhr oder danach fragte, fortan in die Schule mitnahm, brachte ihr Glück. Schon in der darauffolgenden Woche wurden ihre eifrigen Bemühungen um die Schönheit der Sütterlinschrift vom ungeliebten Fräulein Schäfer mit einer Eins belohnt. Die Arbeit, auf dickem weißem Papier geschrieben, das die Kinder hatten von zu Hause mitbringen müssen, war als Weihnachtsgeschenk für die Eltern gedacht und enthielt eine zeitgemäße Botschaft: »Wer trocken Brot mit Lust genießt, dem wird es gut bekommen. Wer Sorgen hat und Braten isst, dem wird das Mahl nicht frommen.« Die Angabe des Dichters mit dem langen Namen war den Kindern freigestellt worden. »Johann Wolfgang von Goethe« hatte die fleißige Victoria in Blockbuchstaben von der Tafel abgemalt, ihr aufmüpfiger Bruder mit Bleistift und winziger, verstellter Schrift an den Rand gekritzelt: »Ein Frankfurter Bub, der nie gedient hat.«
    Es war das erste Jahr, dass im Wohnzimmer kein üppig geschmückter Weihnachtsbaum mit Posaunen blasenden Engeln und vergoldeten Nüssen stand. Der Herr des Hauses hatte dies angeordnet. Seine Kinder trauten sich nicht, ihn nach dem Grund zu fragen. Frau Betsy ahnte die Zusammenhänge, doch sie sagte nur: »Ach.« Am nächsten Tag sagte sie: »Mein Vater wird sich freuen.«
    Wie viele jüdische Familien, denen gerade in der Kaiserzeit das Bekenntnis zu Deutschland und die Assimilation an ihre christliche Umwelt mehr bedeuteten als die eigene Herkunft und Tradition, hatten Johann Isidor und Betsy auch die Illusion von Emanzipation und Gleichheit. Zwar hielten sie die hohen jüdischen Feiertage ein und manchmal auch den Sabbat, sie hatten ihre Söhne zur Bar-Mizwa geschickt und alle vier zum jüdischen Religionsunterricht. Weil es immer so gewesen war, fasteten sie an Jom Kippur und ekelten sich vor Schweinefleisch. Abwechselnd versicherten sie einander, der Gedanke, zum Christentum zu konvertieren, würde ihnen nie kommen. Auch

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