01 Das Haus in der Rothschildallee
Stillen lobte er auch sich, denn er hatte sein Erstaunen nicht gezeigt.
»Ich meine nicht einen, der Wände anstreicht«, erläuterte Erwin. »Ich denke eher an einen Maler, der die Wände mit Bildern bedeckt.«
»Wie Rembrandt?«
»Wie Rembrandt. Nur ein bisschen moderner.«
»Pardon«, entschuldigte sich der Vater. Er wurde nicht rot. Auch war er sicher, dass er nicht wie ein Vater wirkte, der sich vor seinem halbwüchsigen Sohn zum Narren gemacht hat, doch er spürte den Schmerz. Es würde sehr lange dauern, ehe er mit seinen Kindern ebenso unbefangen würde reden können wie mit seinen Kunden und Geschäftspartnern.
Auch als Ehemann war der angesehene Herr Sternberg, der seinen Kindern allzeit die Moral der Rechtschaffenen predigte und ihnen in jeder Lebenslage soldatische Disziplin anempfahl, vom rechten Weg abgekommen. Wie ein ganz gewöhnlicher Mann, der weder Würde und Anstand noch die Rücksichtnahme auf den eigenen Stand und die eigene Familie kennt, war er der Sünde erlegen. Den Jüngling, der er nie gewesen war, hatte der melancholische Grauhaarige gesucht, hatte noch einmal die Kraft seiner Lenden spüren und für den Augenblick einer Männerseligkeit vergessen wollen, was ihm der Ehrgeiz und das Streben nach Anerkennung und Macht zu früh genommen hatten.
Das Lachen einer Unbeschwerten hatte er hören, Leidenschaft erleben wollen. Feste Brüste wollte der Gestrauchelte fühlen, ein Strumpfband aus dunkelrotem Samt am Oberschenkel sehen und keinen Verband aus weißem Mull ums Sprunggelenk. Neben einer Frau hatte er liegen wollen, die kein Haarnetz trug, um die Frisur zu schützen, und die ihren Mann noch im Bett mit den Lateinnoten seiner Kinder traktierte. Statt von den unziemlichen Forderungen der Waschfrau und den ungehörigen Bemerkungen eines impertinenten Metzgers hatte Johann Isidor, während das Wunder währte, die Schmeicheleien einer leidenschaftlichen jungen Frau gehört. Sie beteuerte ihm ihre Liebe bis ans Zeitenende und glaubte an Märchen. Ihre Augen waren Sterne und kirschrot die Lippen, und keiner hatte ihr weisgemacht, die Hingabe an einen Mann wäre der Frauen Pflicht.
Nicht das kurze Abenteuer hatte der Berauschte gesucht, der die Ehe gebrochen. Er hatte nur den belebenden Augenblick der Bestätigung spüren wollen, der einen alternden Mann zu seinen Anfängen zurückführt, doch waren die Besuche bei der jungen Heilfrau zur Gewohnheit geworden. Zu Beginn fanden sie jeden Mittwochnachmittag statt, immer nach der Konferenz mit den leitenden Angestellten in Sternbergs Postkartenverlag.
»Komisch«, witterte Betsy, nachdem sie die Schweigezeit der Klugen eingehalten hatte, »die Konferenzen haben doch früher nicht so regelmäßig stattgefunden.«
»Du ahnst ja nicht, was bei uns los ist, seitdem wir die humoristischen Karten in unser Programm aufgenommen haben. Ich muss dir unbedingt mal welche mitbringen. Du lachst dich kaputt.«
»Bestimmt«, versicherte die Gattin.
Nach neun Monaten wurde ihrem Ehemann die Rechnung zugestellt. Im Juni 1908 war er Vater von zwei gesunden Töchtern geworden. Die beiden Mädchen waren im Abstand von nur drei Wochen geboren worden, doch mit Anna, der Älteren, war der leibliche Vater juristisch nicht verwandt. Er war, weil er klug zu disponieren verstand, noch nicht einmal zum Unterhalt verpflichtet. Die Kindesmutter war auf seinen Vorschlag eingegangen, den Namen Sternberg nicht am Standesamt anzugeben, solange er seinerseits ausreichend für sie und ihre kleine Tochter sorgte. Das tat er. Johann Isidor Sternberg war ein redlicher Kaufmann. Es war nicht nötig, ihn mit schriftlichen Verträgen zu binden. Er hielt sich an mündliche Abmachungen und zahlte mit der Großzügigkeit und Zuverlässigkeit, für die er bei jedermann geschätzt war. Nach Annas Geburt stellte er seine Besuche auf knappe Visiten um. Sie fanden nur noch alle drei Monate statt.
Es war Victoria, das ehelich geborene Kind, das an seinen Nerven zehrte. Weshalb der scharfe Schmerz, warum das Schuldgefühl, wann immer er diese kecke, vorlaute, charmante Tochter auch nur anschaute? Und die Zwillinge? Nie wusste er, was sie dachten und weshalb sie einander und nicht ihn ansahen, wenn er mit ihnen sprach. Es gab auch Tage, an denen er sich so sehr im Gestrüpp seiner Emotionen verirrte, dass er, der die Ehe gebrochen, Betsy seine Untreue verübelte und Ottos Tod als Strafe Gottes für die Sünde des Ehebruchs empfand.
Als Johann Isidor vor der Last seiner Verzweiflung aus der
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