01 Das Haus in der Rothschildallee
Wohnung zu flüchten begann, vertraute er sich einem alten Mann an, dessen Namen er noch nicht einmal kannte. Er reichte Johann Isidor noch nicht mal zur Schulter, war dürr und hatte einen schneeweißen Bart, augenscheinlich einer der Frommen, die keinen Gottesdienst versäumen. Der Alte trug zu jeder Jahreszeit einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut mit breitem Rand. Er sprach wenig, doch er hatte Augen, aus denen Johann Isidor die Bereitschaft zum Zuhören las, nach der es ihn verlangte wie einen Durstenden nach Wasser. Jeden Freitag nach Sonnenuntergang saß er neben dem, von dessen Herkunft und Leben er nichts wusste, in der Synagoge an der Friedberger Anlage.
Den schweigsamen Fremden hörte er atmen, schnaufen und beten. Las er im Gebetbuch, bewegte der alte Mann die Lippen wie ein Kind, das eben erst die Buchstaben kennengelernt hat. Beim Beten schaukelte sein zerbrechlicher Körper nach vorn und wieder zurück. Der wohlhabende Herr Sternberg beneidete den ärmlich Gekleideten, wie er noch keinen Mann beneidet hatte, denn der Fremde war im Haus Gottes kein Verlorener wie er selbst, er war nicht ein flüchtiger Gast, der nur zufällig die Haustürklinke seiner Gastgeber hinuntergedrückt hat. Der ehrfürchtig betende Mann mit den Augen der Anteilnahme verstand, was einer, der an Gott glaubt, zu verstehen hat. Johann Isidor aber starrte in sein Gebetbuch, ohne dass für ihn die hebräischen Buchstaben einen Sinn ergaben. Er hörte den Gesang und die Gebete, doch er war ein Tauber geworden, der von nichts mehr wusste – auf dem Weg in die gehobene Gesellschaft hatte er verdrängt, was er als Kind gelernt hatte. Dann und wann hoben der alte Mann und sein bekümmerter Nachbar zur gleichen Zeit den Kopf. Nachdem sie das Gebet für die Gestorbenen gesprochen hatten, lächelten sie einander zu – ein wenig scheu wie Kinder, die sich fremd sind und denen ihre Mütter Freundschaft befohlen haben, aber doch mit Einverständlichkeit. Es war in einem solchen Moment, dass sich Johann Isidor dem Alten offenbarte.
»Wenn Er Sie hat strafen wollen für eine Sünde«, fragte der Weise, »wieso beschützt Er dann nicht die Söhne von den Leuten, die nicht sündigen?«
»Aber ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Meine Frau«, fiel dem Alten ein, »sagt immer, man muss den Kopf ebenso gut ausfegen wie die Küche.«
»Und das hilft Ihnen, wenn Sie Sorgen haben?«
»Manchmal ja und manchmal nein. Es kommt darauf an, ob der Allmächtige den Besen hält.«
»Und wann tut er das?«
»Ich glaube, wenn er merkt, dass ich selbst schon mit der Arbeit begonnen habe.«
Zwei Wochen vor Beginn des neuen Jahres fasste Johann Isidor den Entschluss, wenigstens das Kapitel seines Lebens neu zu schreiben, das noch zu redigieren war. Er schrieb an Frau Friederike Emilie Haferkorn und setzte sie von seiner Absicht in Kenntnis, sie außer der Reihe aufzusuchen. Im Freundeskreis wurde die Empfängerin des Briefes Fritzi genannt, von den Geschäftsleuten in Sachsenhausen, der Lehrerin ihrer Tochter, vom Hausarzt, der Hausmeisterin und ihrer Zugehfrau »Frau Haferkorn«. Keiner außer der Lehrerin, in deren Klassenbuch die Angaben zum Familienstand ja zu stimmen hatten, wäre auf die Idee gekommen, dass die schöne, blonde Frau von sechsundzwanzig Jahren nicht verheiratet war.
Wer sie kannte, und das waren viele, denn sie mochte Menschen und die Menschen mochten sie, hielt Fritzi für eine bedauernswerte, ungewöhnlich tapfere Witwe, deren Mann ausgerechnet am Kap der guten Hoffnung den Seemannstod gefunden hatte. Den Lebensunterhalt für sich und ihre kleine Tochter verdiente die couragierte Witwe – auch dies wurde nicht angezweifelt – mit Heimarbeit. Die hübsche Mär wurde Fritzi leicht gemacht: Sie war erst nach der Geburt ihrer Tochter in die Textorstraße gezogen und hatte weitsichtig alle Brücken abgerissen, die in ihre Vergangenheit führten. Zudem war sie eine Frau, die nicht gern zurückschaute, sondern lieber nach vorn. In dieser Beziehung glich sie Tante Jettchen, der sie einmal eine Bordüre für königsblaue Samtgardinen verkauft hatte.
Ehe das Fräulein Haferkorn nämlich an einem kalten Winterabend dem Sturm und Drang seines Brotherrn nachgegeben hatte, war es Verkäuferin in der Posamenterie Sternberg in der Hasengasse gewesen – vom Chef in jeder Beziehung geschätzt. Dank ihrer frühen Fruchtbarkeit und seines Verantwortungsbewusstseins hatte Fritzi es seit sieben Jahren nicht mehr nötig, für ihren
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