01 Das Haus in der Rothschildallee
und wo? Frau Fritzis einstiger Chef und Liebhaber erkannte, dass sofortiges Handeln geboten war. Morgens um acht startete er mit einer Mietdroschke, deren Fahrer er mit zehn Pfund Mehl und einem kleinen Kasten Zigarren hatte entlohnen müssen, in die Heimat seiner Kindheit. Seiner Frau sagte er, er hätte eine wichtige Unterredung in Mainz und wäre frühestens am späten Abend zurück.
Es war der Tag, der Doktor Meyerbeer das Fürchten lehrte. Der Arzt, ausschließlich auf die schweren fiebrigen Erkrankungen der Jahreszeit eingestellt und mit vier Fällen von Ruhr konfrontiert, erfuhr mittags um zwölf von der bevorstehenden Ankunft des jüngsten Kindes im Hause Sternberg. Für einen lähmenden Moment, der ihm noch lange Kummer bereitete, hatte Meyerbeer das Bedürfnis, sich auf der Stelle und für immer in Luft aufzulösen. Er steckte in den typischen Nöten der Zeit. Obwohl als Arzt von den Behörden bevorzugt behandelt, war er seit Tagen nicht mehr an Benzin für seinen Adler gekommen. Fahrradfahren hatte er nicht gelernt, und weite Wege – besonders solche, die nicht in einem Tempo zu bewältigen waren, das den Kräften eines rheumatischen älteren Herrn entsprach – waren ihm eine Pein.
Als Josepha – in Schürze und Filzpantoffeln, mit offenem Haar und vollkommen außer Atem – in sein Behandlungszimmer stürzte und »Die Hebamme hat nicht kommen gekonnt, und der gnädige Herr ist nicht zu Hause nicht« schrie, war dem langjährigen Hausarzt der Sternbergs sofort klar, dass er den Weg von seiner Praxis in der Humboldtstraße zur Rothschildallee zu Fuß würde zurücklegen müssen.
Schlimmer noch: Als Hilfe würde er allenfalls eine unverheiratete, hysterische Köchin an seiner Seite haben, die keine Ahnung vom Kinderkriegen hatte.
Meyerbeer nahm sich noch nicht einmal die Zeit, seine Arzttasche zu kontrollieren. Zwar enthielt sie Brom, Belladonna, Jod und Aspirin, ein Mittel gegen Gallenkoliken, das selten wirkte, und eine zusammenklappbare Behelfsschiene, um ein gebrochenes Gelenk zu fixieren, Zinksalbe und Rizinusöl. Während er ohne Hut und mit offenem Mantel im Laufschritt der keuchenden Josepha nachrannte und befürchten musste, jeden Moment auf dem vereisten Bürgersteig hinzustürzen, wurde ihm bewusst, dass er sein Stethoskop vergessen hatte. Eine Geburtszange, von der ja inzwischen jedes Kind in Deutschland wusste, dass sie dem verehrten Kaiser zwar seinen verkrüppelten Arm eingebracht hatte, dass er dem nützlichen Gerät aber auch sein Leben verdankte, wäre in der Praxis Meyerbeer ohnehin nicht zu finden gewesen.
Doktor Adolf Meyerbeer, tüchtig, entschlussfreudig und von seinen Patienten als ein kluger Diagnostiker gelobt, war praktischer Arzt. Ein Kind hatte er noch nie ans Licht der Welt geholt. Die letzte berufliche Begegnung mit einer Schwangeren hatte in seinem fünften Studiensemester stattgefunden – aus einer Entfernung, in der er kaum den Hinterkopf des behandelnden Arztes hatte erkennen können. Trotzdem war ihm damals klar geworden, dass er sich eher entscheiden würde, Medizinmann bei den Indianern zu werden als Frauenarzt in Deutschland.
Doktor Meyerbeer hatte geplant, sich mit fünfundsechzig Jahren von seinem anstrengenden Berufsleben zurückzuziehen und sich endlich guten Gewissens seiner Briefmarkensammlung und seinem zehnjährigen Enkelsohn zu widmen. Der Krieg und Meyerbeers Auffassung von der Treuepflicht eines loyalen Staatsdieners ließen jedoch den Rückzug ins Private nicht zu. In einem Alter, in dem er selbst des Öfteren einen Kollegen konsultieren musste und er auch keine ruhige Hand mehr hatte, war Meyerbeer jede Nacht unterwegs.
In Frankfurt stand es bereits zu Anfang des Jahres 1915 nicht mehr gut um die medizinische Versorgung der Bürger. Es wurden immer mehr Lazarette eingerichtet, die Ärzte brauchten, und gleichzeitig stieg bei der Zivilbevölkerung, die schlecht ernährt wurde und die sich von Tag zu Tag mehr um ihre Familienangehörigen an der Front sorgte, der Krankenstand. Die jungen Ärzte waren beim Militär, die Alten häufig überfordert. Besonders die Hausärzte, die sich ja ihr ganzes Berufsleben lang als »Feld-, Wald- und Wiesenarzt« bezeichnet hatten und dies mit gutem Grund, litten an dem Dilemma, dass mit einem Mal von ihnen Kenntnisse gefordert wurden, die ehedem Sache der Spezialisten gewesen waren.
Als hätte Doktor Meyerbeer geahnt, was im Hause Sternberg auf ihn zukommen würde, hatte er Frau Betsy seit dem vierten Monat ihrer
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