01 Das Haus in der Rothschildallee
hatte entschlossener und rascher ins Leben gedrängt als seine sämtlichen Geschwister; die Mutter hatte nur fünf Stunden in den Wehen gelegen.
Einen Namen bekam das Mädchen erst drei Tage nach seiner Geburt. Seine Eltern hatten sich überhaupt nicht mit der Frage beschäftigt, welche Namen sich in schweren Zeiten für Bürgersöhne oder Töchter aus gutem Hause eigneten. Weil ihr der Name seiner Kürze und Schlichtheit wegen schon immer gefallen hatte, schlug die Mutter der Neugeborenen Anna vor. Ihr Mann öffnete den obersten Hemdknopf, ehe er abwehrte. Irritiert registrierte seine Gattin sowohl die fahrige Bewegung als auch den entschlossenen Zug um seinen Mund. Nur deshalb fiel ihr der von einer milden Herbstsonne gesegnete Sonntagnachmittag ein, als sie Johann Isidor von ihrer Schwangerschaft erzählt und er so seltsam reagiert und gesagt hatte: »Das kannst du doch nicht im Ernst meinen, meine liebe Fritzi.« Wort für Wort hatte Betsy in ihrem Gedächtnis behalten, jede Geste von damals und das verlegene Räuspern. Sie lächelte.
»Fritzi«, schlug sie vor, denn sie war eine Frau aus Lysistratas Geschlecht. Auch als Mutter von fünf Kindern war sie bereit, sich die Finger zu verbrennen, wenn es ihr geboten schien, mit dem Feuer zu spielen. »Nennen wir sie doch einfach Fritzi«, sagte sie, »ist so schön kurz und praktisch, der Name, er klingt irgendwie lustig.«
»Nein«, entschied Johann Isidor. Seine Stimme war eisenfest, die Augen ohne Furcht. Er war ein Mann und manchmal gar ein Held, der sich nicht scheute, mit offenem Visier in den Kampf zu ziehen.
Sie beendeten den Krieg, noch ehe sie den Bogen spannten, denn sie waren zwanzig Jahre verheiratet und wussten, dass es in Eheschlachten niemals Sieger gibt, nur Besiegte. Danach bewiesen sie den Takt und das diplomatische Geschick, die Mann und Frau fester zusammenschweißen als die zwei goldenen Ringe und die Treueschwüre am Hochzeitstag. Johann Isidor streichelte behutsam Betsys bloßen Arm und schaute ihr dackeltreu in die Augen. Sie lächelte und schwieg. In der schönen Einverständlichkeit der Klugen delegierten sie die Ehre der passenden Namenswahl für das Kind in der Wiege an Jettchen und Victoria.
Sowohl das Tantchen als auch ihre Großnichte brauchten Aufmunterung und Trost. Vor allem für Jettchen war der Beweis so nötig wie das tägliche Brot, dass das Familienleben der Sternbergs ohne sie wie eine Suppe ohne Salz sein würde, dass sie von allen geliebt und von jedem geschätzt wurde. Von dem Tag an, da sie den Namen für das Mädchen fand, das in Victorias alter Wiege am Daumen lutschte, hörte Jettchen endgültig auf, die Falten in ihrem Gesicht zu zählen und die Tage, die ihr im Leben noch blieben. Auch schlug sie nie mehr vor, sie wolle zurück nach Darmstadt ziehen, um mehr Platz für das Neugeborene zu schaffen.
Victoria litt zum ersten Mal in ihrem Leben an der Menschheitsgeißel Eifersucht. Beim Frühstück klagte sie über Halsschmerzen, beim Mittagessen über einen einäugigen Riesen, der sie vor dem Milchgeschäft in der Höhenstraße abgefangen und gedroht hatte, er würde ihre Korallenkette zu Pulver zerstampfen. Ab dem Moment, da sie mit Jettchen den Namen für ihre neugeborene Schwester fand, musste sie nicht mehr mit Josephas zeitgemäßer Götterspeise aus Sago, Schwarzbrotbrösel und Berberitzenmarmelade getröstet werden. Sie konnte den Anblick der Rivalin in den Armen ihrer Mutter ertragen, ohne sich an den Leib zu fassen und beim Sprechen in den Singsang eines Kleinkindes zurückzufallen. Bereits nach fünf Tagen brachte Victoria dem Baby ein gehäkeltes Jäckchen aus rosafarbener Angorawolle, dazu die passende Mütze. Beide waren drei Jahre zuvor in den Besitz ihrer Puppe Käthe übergegangen. Vor allem gab Victoria ihren Anfangsverdacht auf, die kleine Schwester wäre in Wirklichkeit ein Hexenkind, von Ottos Mördern ausgeschickt, um sie und die Zwillinge in einem pechschwarzen Gespensterwald mit vergifteten Bethmännchen zu meucheln.
Zum Wohl der gesamten Familie Sternberg erwies sich Victoria bei der Namenswahl als klug und kompromissbereit. Ohne Widerrede verzichtete sie auf ihre beiden Vorschläge – Rapunzel und Rosenrot. Es war bei dieser denkwürdigen Konferenz mit ihrem Tantchen, der Victoria ja sehr viel mehr Weisheit zubilligte, als es die meisten Menschen taten, dass ihr Interesse für Geschichte erwachte.
»Alice«, schlug Jettchen vor, »unsere Alice, die unvergessene Gattin unseres geliebten
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