01 Das Haus in der Rothschildallee
Schwangerschaft energisch und wiederholt geraten, in einem Hospital zu gebären. Mit Engelszunge hatte er darauf hingewiesen, dass viele Frauen neuerdings ihre Kinder nicht mehr zu Hause bekämen und dies meistens als angenehm und erholsam empfinden würden. Als Freund der Familie hatte »Onkel Adolf«, wie er von Victoria und selbst noch von den Zwillingen genannt wurde, sich sogar die Freiheit genommen, darauf hinzuweisen, dass Frau Betsy sich in einem »nicht alltäglichen Alter für eine Schwangerschaft« befände. Wann immer Madame Sternberg jedoch diesen gut gemeinten Rat hörte, faltete sie ihre Arme über dem sich rundenden Leib wie eine Frau aus dem Volke und konterte mit unangenehm lauter Stimme: »Wenn mein Bett gut genug war für vier Kinder, wird sich auch das fünfte damit zufriedengeben müssen.«
Meyerbeer grämte sich. Er fand, ein solcher Eigensinn mochte Betsys vierzehnjähriger Tochter noch zu Gesicht stehen, einen Trotzkopf von dreiundvierzig Jahren, der es an der Galle hatte und keine Schlagsahne mehr zum Zwetschenkuchen vertrug, empfand er allerdings als Zumutung. »Besonders für den Arzt«, beschwerte er sich beim Abendessen bei seiner Frau. »Sie soll bloß nicht auf die Idee kommen, mich zu holen, wenn die Wehen einsetzen. Wer nicht hören will, muss fühlen.« Ausnahmsweise stimmte Frau Meyerbeer ihrem Gatten zu. Sie war ohnehin der Meinung, er würde sich für die Sternbergs aufreiben und die es ihm nie genug danken.
Erwins Lippen waren blau, und er zitterte, als er dem Arzt die Haustür aufhielt. Der Junge hatte eine Dreiviertelstunde auf der Straße gestanden und nach Meyerbeer Ausschau gehalten. Um den Helfer mit der mangelhaft gepackten Arzttasche war es ebenso schlecht bestellt. Er rang noch im Erdgeschoss nach Luft, als er schon die Gebärende im ersten Stock stöhnen hörte. Auch ihm war nach Stöhnen zumute. Er fühlte sich schwach und elend, sah, weil er nur den Bruchteil einer Sekunde die Augen zumachte, Professor Buchheim im weißen Kittel und mit wirrem Haar. Der rief warnend: »Meine Herren, glauben Sie nur nicht, dass der Rasen jeden Ihrer Fehler zudecken wird.« Der Patient, auf einer Trage im Hörsaal, hatte gewiehert, die Studenten keine Bewegung gewagt.
Der Hausflur war dunkel, das Treppenhauslicht funktionierte nicht. Mühsam zog sich Meyerbeer am Treppengeländer hoch. Mit bleischweren Füßen erreichte er die Diele, sah Clara, die mit weißem Gesicht in Richtung Küche hetzte, und stolperte über seinen linken Fuß. Nervös riss er an seinen Mantelknöpfen, Josepha ebenso hektisch an seinem Ärmel. Eine Tür wurde zugeschlagen. Eine Frau huschte durch den Flur. Da geschah das Wunder.
Doktor Adolf Meyerbeer, der weder Tod noch Teufel noch Wundbrand fürchtete, der aber von Anfang an die Geburtshilfe aus dem Repertoire seiner medizinischen Wohltaten ausgeklammert hatte, hörte eine Stimme, die er auf Anhieb erkannte. Schrill wie gesprungenes Glas war diese Stimme, zu herrisch, um im landläufigen Sinne angenehm zu sein, doch für Meyerbeer war das kraftvoll dröhnende Organ lieblich wie Engelsgesang. Es gehörte der Hebamme Fräulein Grete Neger.
Als er seinem Schöpfer für die Rettung aus Medizinernot und Albtraum dankte, streckte Meyerbeer tatsächlich seine Arme himmelwärts. Er schlug Erwin so kräftig auf die Schulter, dass dieser taumelte, nannte ihn einen Prachtbengel und streichelte beglückt seinen Mantel. Um ein Haar hätte er die immer noch heulende Josepha umarmt. Sofort danach vernahm er allerdings einen infernalischen Lärm – verursacht von einer Kreatur, von der der jubelnde Arzt noch nicht einmal hätte sagen können, ob es ein Mensch war oder ein Tier, das da schrie.
Schwester Neger hatte er selbst als die fähigste Hebamme in der ganzen Stadt empfohlen. Dass diese tüchtige Geburtshelferin, bei der sich Reich und Arm geborgen fühlten, die nie zweifelte und nie verzweifelte, nun entgegen Josephas Behauptung zur Stelle und, nach ihrem Stimmvolumen zu urteilen, in Tätigkeit war, erleichterte Meyerbeer so sehr, dass er laut wie ein Bierkutscher lachte. Er ließ sich dazu hinreißen, wie ein besoffener Seemann »O ho!« zu grölen, holte eine Bandage aus seiner Arzttasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Glücklich wie ein Schulbub am ersten Tag der Ferien war er. Entspannt, höchstens ein wenig verwirrt hielt er Ausschau nach dem kreischenden Geschöpf. Nichts sah er und niemanden. Erst als sein Blick zum zweiten Mal in Richtung
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