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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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in Schotten übertragen werden, von dessen Existenz Frau Betsy nichts wusste. Drei Stunden später sagte Fritzi dem Malermeister zu, ihn bald zu heiraten. Sie feierten das Ereignis mit einer Flasche »Feldgrau« von der Frankfurter Feist Sektkellerei. Johann Isidor hatte ihn Fritzi im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt, sie jedoch die Gabe für eine besondere Gelegenheit reserviert. Anna trank aus einem Puppenglas.
    Auch Johann Isidor empfand den Tag als einen besonderen. Zwar war er zu klug und zu ehrlich, um sich weiszumachen, er hätte sich von der Sünde befreit, aber zum ersten Mal seit sieben Jahren war es ihm möglich, ohne Scham und ohne Selbstvorwurf an Betsy zu denken. Den, der in den Schoß der Familie mit einem gereinigten Gewissen zurückkehrte, drängte es nach Hause. Der eisige Wind war beißend. Er trieb ihm Tränen in die Augen und blies ihm in die Nase. Trotzdem waren seine Schritte lang und kraftvoll, waren die eines Mannes, der nicht zaudert und niemanden fürchtet.
    Wie alle reuigen Sünder hatte auch Johann Isidor das Bedürfnis, diejenige, an der er gesündigt hatte, lächeln zu sehen. Das Blumengeschäft neben seiner Posamenterie war jedoch geschlossen, ebenso die Chocolaterie, in der es vor dem Krieg die von Betsy geliebten Pistazienwürfel mit Pflaumen in Arrak gegeben hatte. Ein Buchladen bot »aktuelle Lektüre für die deutsche Jugend« an. Der treu sorgende Vater kaufte ein hübsch bebildertes Buch mit dem Titel »Der kleine Kanonier« für Victoria und die Hefte »Unsere Flieger« und »Der große Krieg« für die Zwillinge.
    Im Weggehen sah er eine Porzellanschale, die ihm ausnehmend gut gefiel und ihm als künstlerisch vollkommene Huldigung für die erschien, in deren Händen das Schicksal der Nation lag. Aus einem Kranz kleiner roter Rosen leuchteten die Bildnisse von Wilhelm II. und dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. – die Männer, für die sein achtzehnjähriger Sohn freiwillig in den Tod gegangen war.
    Johann Isidor kaufte die Schale, obwohl sie sechzig Mark kostete und ihm für ein Geschenk zu einem Anlass, von dem er ja nicht würde sprechen können, ein wenig überteuert erschien. Er nahm sich vor, Betsy noch vor dem Abendessen das Präsent zu überreichen, freute sich auf ihr Gesicht und seine zufriedene Stimmung. Eine gefrorene Wasserlache, noch nicht einmal so groß wie eine Frauenhand, bestimmte es anders.
    Johann Isidor hatte zu viel Kraft gebraucht, um die Zukunft der kleinen Anna wie ein Ehrenmann zu regeln und sein Gewissen zu reinigen. Er achtete, als er das Geschäft verließ, nur noch auf seine innere Stimme und nicht mehr gründlich genug auf den festen Halt, den das Leben erfordert. Auf der Berger Straße, in Höhe des Merianplatzes, stürzte er ausgerechnet vor der Metzgerei, in der Betsy jeden Freitag einkaufte. Seine Glieder blieben unversehrt, nur der Mantel hatte einen hässlichen Fleck am Ärmel. Auch sein Stolz hatte gelitten. Ein hübsches junges Mädchen mit dicken Zöpfen, höchstens so alt wie Clara, half dem Gestrauchelten so vorsichtig auf die Beine, als wäre er ein Greis und ginge am Stock. »Mein Opa ist vorige Woche auch so bös’ gefallen«, tröstete das ahnungslose Kind.
    Am schlimmsten hatte es die teure Porzellanschale getroffen. Das Geschenk des reuigen Sünders für seine verständnisvolle, ihm in Treue verbundene Ehefrau war in drei Teile zerbrochen. Obwohl er die Unlogik seines Zorns sofort erkannte, verfluchte er sämtliche deutschen Kaiser. Und die österreichischen dazu.
    »Du siehst nicht gut aus«, sagte Betsy beim Abendessen. »Du wirst doch nicht etwa Fieber bekommen. Oder hast du Ärger gehabt?«
    »Nicht mehr als sonst«, antwortete er.

8
EIN JEDER NACH SEINER KRAFT
    Frankfurt, 1. Januar bis 31. Dezember 1915
    Das Jahr 1915 begann bei den Sternbergs mit den wohltuenden Hoffnungen, die den ersten Tag des Jahres vergolden, und einem falschen Leberkäse. Der nahm sich, obgleich mit einem Sträußchen Petersilie und einem kleinen Schornsteinfeger aus Pappe garniert, auf der Fleischplatte des Rosenthalservices wie eine Stallmagd in Seidenschuhen aus. Der Frankfurter »General-Anzeiger«, der sich in satter Zeit nur im Ausnahmefall mit Küchenthemen abgab, hatte in seiner Ausgabe zum zweiten Advent das Rezept für den Leberkäse-Ersatz veröffentlicht. Benötigt wurden hundert Gramm Leberwurst, zwei Bündel durch den Fleischwolf gedrehtes Wurzelwerk, eine Tasse gut gequollener Grieß, zwei Esslöffel Margarine,

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