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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Wintergarten ging, entdeckte er Jettchens Papagei. Der hockte in seinem Käfig und sah aus, als würde er grinsen. Abwechselnd und höllenlaut krächzte er: »Otto ist ein lieber Bub« und »Otto ist tot.«
    Doktor Meyerbeer war bestürzt und wütend. Er war von Natur aus ein empfindsamer Mann, und in der Psychologie war er seiner Zeit voraus; er hatte sich sein Leben lang nicht nur mit dem Körper beschäftigt, sondern auch mit der menschlichen Seele. Nun malte er sich mit Entsetzen aus, was es für eine Mutter bedeutete, fortwährend den Namen ihres soeben im Krieg gefallenen Sohnes zu hören.
    »Nicht mit mir, du Mistvieh«, drohte er in den Wintergarten hinein.
    Drei Minuten später kam es zu einem grotesken Missverständnis. Der Papagei hatte gerade zum vierten Mal seit Meyerbeers Ankunft »Otto ist tot« geschrien und die Gebärende einen markerschütternden Schrei getan. Josepha war mit dampfendem Wasser im Einmachtopf ins Schlafzimmer geeilt, hatte ausgerechnet vor dem Wochenbett zu weinen angefangen und sich bekreuzigt.
    Der ruhige, immer gefasste Arzt hatte an der Küchentür gestanden. Geduldig hatte er gewartet, bis Josepha aus dem Schlafzimmer zurückkam. Er hatte die Hände unter die Achselhöhlen gedrückt und wippte ein wenig mit seinem Körper. Betont leise, weil er, wenn wütend, grundsätzlich seine Stimme senkte, sagte er: »Machen Sie diesem Mistkerl klar, dass es nicht gut um ihn steht. Wenn er nicht sofort seinen verdammten Schnabel hält, landet er noch heute in der Bratpfanne.«
    Statt die Decke über den Vogelkäfig zu stülpen, was den aufgekratzten Papagei unverzüglich zum Schweigen gebracht hätte, stürmte Josepha fort. Sie rutschte auf den Teppichfransen im Esszimmer aus, eilte mit bleichem Gesicht zu Jettchen, die mit der verängstigten Victoria im Salon saß, und wiederholte erschüttert die einzigen vier Worte von Doktor Meyerbeers Drohung, die sie in ihrer Aufregung behalten hatte. Victoria hörte die Köchin »Es steht nicht gut« in Jettchens Ohr raunen. Das Kind sah, dass die Oberlippe und die Schultern der geliebten Tante bebten, und erinnerte sich sofort und in allen Einzelheiten an den Tag von Ottos Tod. Damals hatte sie zunächst die Erwachsenen flüstern gehört, dann war das Gesicht ihrer Mutter fremd und steif geworden wie das einer Teepuppe. Josepha hatte »Das kann nicht wahr sein« geschrien, und Tante Jettchen war zwergenklein geworden und hatte wie ein ganz kleines Kind gejammert.
    Als ihr Vater am späten Nachmittag nach Hause kam, fand er seine Tochter schluchzend auf Jettchens Schoß. Aus Victorias Mund vernahm er die Schreckensbotschaft. Auch er begann heftig zu zittern. Er musste sich an der Lehne des Schaukelstuhls festhalten, rief laut: »Nein« und verbarg sein Gesicht in den Händen. Jettchen, für einen gesegneten Moment von dem Desaster im Schlafzimmer abgelenkt, stellte Victoria auf die Beine. Trockenen Auges stand sie auf und presste ihren Körper an den des entsetzten Hausherrn. Auch Victoria hörte auf zu weinen. Als sie sah, dass ihr Vater sich beruhigt hatte, drückte sie geniert die Zunge durch ihre Zahnlücke und versuchte zu lächeln. Da war sie schon nicht mehr das jüngste Kind im Hause Sternberg.
    »Kommen Sie«, rief Doktor Meyerbeer aus dem Schlafzimmer, »wie lange wollen Sie denn noch untätig herumlungern?«
    Bereits am Abend war Betsy stark genug, um ein Dankgebet zu sprechen. Ihr fünftes Kind war kein Sohn, den sie zu einem deutschen Mann zu erziehen hatte und den es eines Tages drängen würde, auf dem Feld der Ehre für sein Vaterland zu sterben. Die zufriedene Mutter drückte ihre dritte Tochter an die Brust. Ihr Lächeln war das einer jungen Frau, und sie wusste schon nicht mehr, dass sie das Kind nicht gewollt hatte. »Ein Prachtbaby«, sagte Fräulein Neger, eine Schmeichelei, die sie nur reichen Eltern gönnte. Arme Leute wurden allenfalls mit gesunden Kindern gesegnet und ermahnt, sie reinlich zu halten und nicht mit Schnaps ruhigzustellen.
    Das jüngste Kind im Hause Sternberg war fünfeinhalb Pfund schwer und einundfünfzig Zentimeter lang. Es hatte die unschuldsblauen Augen aller Neugeborenen, doch bereits Haare, und zwar schwarze wie sein Vater. Die Stimme würde es spätestens in sechs Monaten mit dem Papagei des Hauses aufnehmen können. Bemerkenswert war, dass das Kind schon bei seiner Ankunft in einer Familie, die nicht mehr auf neues Leben eingestellt war, sich rücksichtsvoll und lobenswert energisch gezeigt hatte. Es

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