01 Das Haus in der Rothschildallee
Pfefferersatz und »Zwiebel, Majoran und Bohnenkraut entsprechend den Vorräten«. Dazu gab es Sauerkraut und Klöße aus schwarzem Brot. Der Bäcker hatte seine Patenterfindung mit Graupen gestreckt und Josepha sie die ganze Woche lang gehortet. Die Gemüsebeilage war, weil in Frankfurt ein ungeschriebenes Gesetz am Neujahrstag, im »General-Anzeiger« nicht eigens empfohlen worden. Es war nur euphemistisch vermerkt worden, Sauerkraut wäre »derzeit ein wenig knapp«.
Josepha hatte den Kohl bei ihren Nauheimer Verwandten gegen zwei altmodische Hüte eingetauscht – einen blauen Strohhut von Frau Betsy und ihren eigenen marineblauen Filzhut in Topfform. Sie selbst hätte ihn noch nicht einmal mehr aufgesetzt, um auf dem Wochenmarkt Zwiebeln einzukaufen, warf jedoch ihrer Cousine beim Abschied vor, sie hätte sich für »ein so gutes Stück« nicht erkenntlich genug gezeigt.
Das Sauerkraut – mit Wacholderbeeren, die es noch bei einem Frankfurter Gemüsehändler in der Vogelsbergstraße gab, und Lorbeer aus den eigenen Vorräten – duftete schon beim Kochen nach Frieden und Behaglichkeit und der schönen Bürgertradition, auf die so lange Verlass gewesen war. Als sie die dickbäuchige Schüssel ins Esszimmer trug, in der einst das Gemüse für sieben Personen serviert worden war und die sie nun noch nicht mal mehr zur Hälfte hatte füllen können, erklärte Josepha mit dem Hausfrauenstolz derer, die nicht gewillt sind, sich kampflos widrigen Umständen zu beugen: »Wer am Neujahrstag in Frankfurt kein Sauerkraut isst, der hat das ganze Jahr über kein Geld. Das wissen selbst die Eingeplackten und die Dahergelaufenen.«
Den kleinen Witz machte sie jedes Jahr am 1. Januar, exakt um zwölf Uhr mittags, doch 1915 lachte der Hausherr nicht, wie es sich für einen gehört, der seinem Personal eine Freude machen will. Er starrte trübsinnig auf seinen Teller und erwiderte: »Was in Kriegszeiten absolut nicht von Bedeutung ist, Josepha. Es kommt nicht mehr drauf an, ob wir Geld haben oder nicht. Es kommt einzig und allein darauf an, was man für sein Geld kaufen kann, und dafür brauchen wir schon heute ein Vergrößerungsglas.«
Für gewöhnlich äußerte sich Johann Isidor nicht im Familienkreis zur aktuellen wirtschaftlichen Lage, doch war er nicht nur melancholisch, sondern auch indisponiert. Sauerkraut hatte er selbst in seinen gesunden Zeiten schlecht vertragen, und nun rumorte der Schatz aus Bad Nauheim bereits in seinem Darm, als das Kraut noch auf dem Teller lag. Der Hausherr seufzte, gab jedoch umgehend vor, er hätte sich räuspern müssen. Er hatte absolut nicht beabsichtigt, Josepha zu rügen. Ihr errötetes Gesicht und die fest geschlossenen Lippen zeigten ihm an, wie gekränkt sie war. Johann Isidor spürte ein unangenehmes Brennen in der Kehle; er genierte sich sehr. Um die Verbindlichkeit bemüht, die dem Feiertag angemessen war, lächelte er seine Köchin an. Sie stand an der Tür, die wuchtige Gemüseschüssel an ihren Bauch gedrückt. »Was mag uns das neue Jahr bringen?«, fragte sie ihr Dienstherr.
»Wahrscheinlich wird die Welt noch mehr wackeln, als sie es jetzt schon tut«, erwiderte Josepha düster.
»Bravo, Kassandra!«, applaudierte Clara. Ihr Bruder stand auf und wedelte mit der Serviette. Victoria stopfte die ihre in den Mund, um nicht zu kichern. Ihre Mutter sah sie an und sagte rügend: »Sitz grade!«
Josephas düstere Prophezeiung war kein bisschen falsch. Zur Mitte des Monats berichteten die Zeitungen, dass weite Teile von Süd- und Mittelitalien durch ein Erdbeben zerstört worden waren. Es hatte dreißigtausend Tote gegeben. Das Familienoberhaupt verkündete die Tragödie beim Essen. »Das ist Gottes Strafe dafür, dass die Schurken auf der falschen Seite kämpfen«, bilanzierte Erwin.
Ein jeder Kinderfreund hätte an seinem gutmütigen Gesicht ablesen können, dass er nicht meinte, was er sagte, und dass er nur einmal mehr seinen vorlauten Bubenwitz hatte ausprobieren wollen, doch sein Vater bezeichnete die Bemerkung als einen »menschenverachtenden Affront« und wies seinen Sohn mit theatralischer Gebärde vom Mittagstisch. Es gab an diesem Donnerstag ausgerechnet Backobst mit Mehlklößen, die der Entehrte besonders gern aß, doch Josepha entschädigte ihren Hätschelbuben in der Küche – mit einer doppelten Portion vom Backobst. Außerdem waren Erwins Klöße die einzigen, die sie mit Zimt bestreute. Sein Vater, begütigte Josepha löffelschwenkend, sei zu bedauern. Er
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