01 Das Haus in der Rothschildallee
hätte »zu viel um die Ohren«.
»Und zu wenig im Hirn«, schimpfte Erwin.
Einige Tage darauf fielen seine Schwestern in Ungnade. Vom 18. bis 24. Januar war die »Reichswollwoche« angesetzt worden. Die Beteiligung an der Sammlung zugunsten des Militärs wurde in den Betrieben, auf Hausfrauenabenden und in den Schulen als eine »vaterländische Pflicht« bezeichnet. Ohne Rücksprache mit ihrer Mutter lieferte Clara in der Sammelstelle auf der Scheidswaldstraße zwei Paar von den verhassten Wollschlüpfern ab, dazu die passenden Hemdhosen. Victoria, die sie begleitete, spendete für die »armen frierenden Soldaten« ihren brandneuen, aus einer Wolldecke geschneiderten Morgenrock und die langen braunen Wollstrümpfe, die ihr noch mindestens ein Jahr gepasst hätten. Auf die gleiche Art entledigte sie sich einen Tag später des Leibchens aus weißem Leinen, an dem die demütigende Fußbekleidung befestigt wurde.
Ihre schwangere Mutter, in großer Sorge, ob die Kohlenvorräte bis zum Frühjahr ausreichen würden, und froh über jedes Stück warmer Unterwäsche, das noch im Schrank ihrer Kinder zu finden war, erfuhr vom Alleingang ihrer Töchter aus deren eigenem Mund. Sie weinte drei Taschentücher nass, und noch um Mitternacht musste ihr Tante Jettchen Schafgarbentee aufbrühen.
Betsy nahm sich vor, Clara fühlbar dafür zu bestrafen, dass sie ihre unschuldige kleine Schwester zu dem Frevel angestiftet hatte, eine karitative Idee für eigene Zwecke zu missbrauchen. Am nächsten Tag erfuhr sie allerdings, dass der Einfall, sich auf diese Weise von den ungeliebten Teilen ihrer Ausstattung zu trennen, von Victoria stammte und Clara die Verführte war.
Das Kriegsgeschehen sorgte auch bei Erwin für eine einprägsame Erfahrung. Als immer mehr Lehrer ihrer Pflicht an der Front statt am Katheder nachkommen mussten, wurden der Kunst- und der Geschichtsunterricht des Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums zusammengelegt. Es lag in der Natur der Zeit, dass ab dann der Zeichenunterricht nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor auf die Schönheit in der Natur und die Romantik in der Malerei abgestellt wurde. Im Januar 1915 hatte der Schüler Sternberg dreieinhalb Wochen mit der Zeichnung des Panzerkreuzers »Blücher« zugebracht. Noch vor der Fertigstellung seiner Arbeit war er für seine exzeptionelle Fähigkeit gelobt worden, technische Details wirklichkeitsgetreu darzustellen. Oberstudienrat Dr. Gisbert Hartmann, ein Mann von fast siebzig Jahren, den der Krieg aus seinem idyllischen Ruhesitz in Bensheim an der schönen Bergstraße zurück ins Schulleben beordert hatte, sprach gar von einer »durchaus denkbaren Zukunft als Marinemaler«. Da – am 24. Januar – war die »Blücher« bei einem Seegefecht zwischen deutschen und britischen Schlachtkreuzern an der Doggerbank versenkt worden. Mit betrübtem Gesicht und in niedergeschlagenem Moll befahl Oberstudienrat Hartmann seinen Schülern, aus »Gründen der Pietät« die Arbeit an der »Blücher« einzustellen.
Erwin berichtete zu Hause von den Vorkommnissen und mutmaßte, da bereits allerorten vom bevorstehenden U-Boot-Krieg die Rede war: »Wahrscheinlich lässt uns Grizzly nur noch Schiffe malen, die ohnehin schon unter Wasser sind.« Diesmal wurde er nicht vom Tisch verwiesen, obgleich seinem Vater der Verlust der »Blücher« sehr naheging. Die deutsche Kriegsmarine war durchaus nicht allein des Kaisers Stolz.
Der Februar brachte bessere Nachrichten. Am 2. des Monats wurden Niederlagen der Briten in Mesopotamien gemeldet, am 5. das Scheitern der russischen Offensive in der Bukowina, und am 27. war zu erfahren, dass die Russen schwere Verluste in den Karpaten erlitten hatten. Auf allen Schulhöfen wurde gejubelt. Victoria kam mit einer Zeichnung nach Hause, in dem der Zar als »Nikolaus Sauruss, Mordbrenner und gewesener Henkersknecht« steckbrieflich gesucht wurde. Sie hatte das Kunstwerk für ein dünn mit Kümmelmargarine bestrichenes Brot erstanden. Tante Jettchen lobte ihre Geschäftstüchtigkeit. Von ihrer Mutter wurde das Kind getadelt. Allerdings nur mit halber Kraft. Der 28. Februar, der bei den Sternbergs das Kriegsgeschehen aus dem Bewusstsein verdrängen sollte, warf seine Schatten.
In einem Brief, der am Vortag von einem Boten im Kontor der Posamenterie Sternberg abgegeben wurde, hatte Frau Friederike Haferkorn Johann Isidor wissen lassen, dass die Überschreibung seines Grundstücks in Schotten auf ihre Person nicht reibungslos verliefe. Ob sie ihn aufsuchen solle
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