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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Großherzogs Ludwig.« Ihre Nichte war, weil ja nicht aus Darmstadt und gerade in der ersten Klasse der Volksschule, zunächst nicht im Bilde, doch sie zeigte sich beeindruckt, als Jettchen ihr die Geschichte ihres Idols erzählte. »Sie war eine richtige Prinzessin«, schwärmte Jettchen, »und wunderschön. Sie war die Tochter der berühmten Königin Victoria und wurde im Buckingham Palace geboren. In elf Jahren hat sie ihrem geliebten Gatten sieben Kinder geboren. Sie war auch die Tante von Kaiser Wilhelm II.«
    »Und hat sie ihm auch so einen schönen Griffelkasten gekauft wie du mir?«
    »Ach, Kind, sie ist schon lange tot, unsere Alice, doch in unserer Erinnerung wird sie für immer leben.« Dass sich die beliebte Großherzogin von Hessen und bei Rhein bei der aufopfernden Pflege ihrer an Diphtherie erkrankten Kinder angesteckt hatte und im Alter von fünfunddreißig Jahren gestorben war, verschwieg das umsichtige Tantchen. Sie fand, das Leben hätte ihrer Großnichte ohnehin eine zu frühe Begegnung mit dem Tod zugemutet.
    Alice Sternberg, die ihren Vornamen erst mit vier Jahren auszusprechen lernte, wurde meistens Lilli genannt – keiner in der Familie wusste weshalb. Von ihrer sechsjährigen Schwester wurde das Baby, das trotz der kargen Ernährungslage wie ein Bauernkind gedieh und wie die Putten in den Gärten der Landschlösser aussah, herumgeschleppt, getröstet, ehe die erste Träne floss, gehätschelt und so innig geliebt, dass Betsy wieder an Wunder zu glauben lernte. Victoria bewachte den Schlaf der Kleinen mit der Aufmerksamkeit eines Hofhundes. Noch während das Baby gestillt wurde, hortete sie für die Kleine die eigene schmale Zuteilung an Plätzchen und Zuckerstückchen. Sie schaukelte ihre Schwester in der Wiege, bis es beiden schwindelte, versprach ihr, sie unter Einsatz des eigenen Lebens vor Franzosen, Briten und Russen zu beschützen, und sang ihr jedes Lied vor, das sie je gelernt hatte. Im Herbst, als Lilli schon mit einem Zahn lächelte und gelernt hatte, ihre Hände zum Bekunden eines zufriedenen Gemüts aneinanderzureiben, erklang eines Morgens um sieben – die Eltern waren noch im Schlafzimmer – Schwester Vickys neueste Errungenschaft. Der aktuelle Schlager stammte aus dem sich ständig erweiternden Repertoire vom älteren Bruder der Freundin Marie:
    Ein Sekundaner, sechzehn Jahr, steht im Bezirks-Gedräng’, der Stabsarzt sagt ihm klipp und klar:
    »Die Brust ist viel zu eng.«
    »Für eine Kugel breit genug«, sagt da der junge Schneuz.
    »Und so es Gott im Himmel will,
    auch für ein Eisern’ Kreuz.«
    »Wenn das Mama hört, wackeln hier die Wände«, warnte Clara. »Kannst du diesem Kind nicht einmal ein richtiges Lied vorsingen, Vicky? ›Freude schöner Götterfunken‹, meinetwegen. Oder ›Was raschelt im Stroh‹?«
    Die Frage war rhetorisch, denn Clara hatte weder Zeit noch Lust und schon gar nicht die Absicht, sich mit der musikalischen Förderung des Nesthäkchens abzugeben. Mit der Ankunft ihrer zweiten Schwester hatte sie sich immer noch nicht abgefunden. Jede Träne, die Alice vergoss, ihr Lachen und das Plappern, das alle anderen entzückten, bohrten sich als Pfeil in Claras empfindsames Gemüt. Mademoiselle Sternberg hatte nämlich äußerst präzise Vorstellungen, wie sich Ehepaare in mittleren Jahren zu verhalten hätten, und sie war der Meinung, ihre greisen Eltern hätten mit dem Baby die gesamte Familie lächerlich gemacht. »Immerhin sind sie ja alt genug für das erste Enkelkind«, beschwerte sich Clara bei ihrem Bruder.
    »Sag nur, du hast in dieser Beziehung was vor?«, erkundigte sich Erwin, ohne dass nur der Hauch eines Lächelns ihm die Pointe verdarb, »Theo, ich höre was läuten.«
    »Ja, glaubst du, ich bin so blöd wie unsere Mutter? In Zeiten, wo sie nicht weiß, wie sie drei Kinder satt bekommt, kriegt sie ein Baby.«
    »Soviel ich weiß, war Alice eine Vorkriegsproduktion. Gerade noch, hat mir Josepha verraten.«
    Clara mit der kecken Zunge war zu einer frühen Schönheit erblüht. Die in den Zeiten der Fülle ausrangierten Kleider ihrer Mutter waren vom Speicher geholt und von der langjährigen Hausschneiderin der Sternbergs für die älteste Tochter umgearbeitet worden. Es war noch keine zehn Jahre her, dass die Meisterin der flinken Nadel die kleine Clara mit dunklen Schulschürzen und den weißen Flügelkleidern für den Sonntagsspaziergang versorgt hatte. An der Fünfzehnjährigen, für die das gängige Wort Backfisch schon nicht mehr

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