01 Das Haus in der Rothschildallee
Brüderchen sich ernsthaft mit der Frage beschäftigt, ein zweiter Rembrandt zu werden.«
»Nein«, widersprach Erwin der Furchtlose, den außer der Malerei wenig auf der Welt interessierte, »ein zweiter Kandinsky, aber wahrscheinlich hältst du den für einen polnischen Juden und den Blauen Reiter für das Oberteil eines Pferdes.«
»Und was ist daran falsch?«, fragte Clara. Sie sah liebreizend aus in dem braunen Wollrock ihrer Mutter, den die Schneiderin mit grüner Samtborte aus der Sternberg’schen Posamenterie verziert hatte. Selbst der eigene Bruder fand sie eine Augenweide.
Allein Erwin, der treue Paladin der Kindertage, den kein Mann je würde vom Platz in ihrem Herzen verdrängen können, kannte vorerst auch Claras zweites Geheimnis. Es war ihr nach erheblicher Mühe gelungen, trotz ihrer Jugend, aber wegen des exzellenten Rufes ihres Elternhauses, zweimal in der Woche im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt als Hilfskraft angenommen zu werden. Der in jeder Beziehung nützliche Näh- und Strickkurs leistete auch da gute Dienste, um Claras regelmäßige Abwesenheit von zu Hause zu erklären. Das jüdische Krankenhaus in der Gagernstraße, für junge Beine knapp zwanzig Minuten Fußweg von der Rothschildallee entfernt, war im ersten Kriegsjahr eröffnet worden. Das moderne Hospital, auf dem neuesten Stand der Technik, war in Frankfurt ein Synonym für den Fortschritt in der Medizin. Die Abteilung für die Verwundetenpflege musste ständig erweitert werden.
Zu Hause erwies sich Clara zur Verärgerung und Enttäuschung ihrer Mutter als erstaunlich ungeschickt und kränkend unwillig bei der Säuglingspflege. Die kleine Alice, die jubelte, sobald sie Victoria sah, heulte wie ein Wolf, wenn ihre älteste Schwester nur Anstalten machte, ihre Windel zu wechseln. Bei der Pflege von erwachsenen Männern hatte Clara indes die kompetenten, sanften, beruhigenden Hände, nach denen Deutschlands Helden lechzten. Viele von ihnen waren dem Tod nur um Haaresbreite entgangen; die Jüngsten hatte der Krieg buchstäblich aus dem Elternhaus gezerrt. Sie waren in ein schwarzes Meer von Schmerz, Angst und Verzweiflung gestürzt, und doch kehrten ihre Augen für einen Moment aus der Finsternis zurück, wenn Clara an ihrer Lagerstatt stand.
»Sie ist ein Engel«, bekam Johann Isidor Sternberg zu hören, als er seine Tochter, die er gut behütet unter der Aufsicht ihrer Mutter wähnte oder zumindest an einer Nähmaschine, als eine ungehorsame Schwindlerin entlarvte. Er musste gleichzeitig jedoch auch einsehen, dass sie eine Tochter war, der die Achtung eines stolzen Vaters gebührte.
Der Zufall hatte den jungen Engel zwar vor dem strengen väterlichen Auge bloßgestellt, aber wahrhaftig nicht in die Verdammnis gestoßen. »Man kann eben nicht Gutes tun und es vor denen geheim halten, die auch ihre Pflicht erfüllen«, hatte Johann Isidor in dem Gespräch bilanziert, das schließlich auch die Mutter der rührigen jungen Heldin ins Bild setzte.
Im zweiten Kriegsjahr war es nämlich auch Johann Isi-dor gelungen, sich durch wohltätiges Wirken als ein Deutscher zu fühlen, der seinem Vaterland treu diente. Der respektierte Handelsmann Sternberg, nicht mehr jung und nicht mehr gesund genug, um des Kaisers Rock zu tragen und den süßen Tod für sein Vaterland zu sterben, fühlte sich nicht länger vom Kreis der Opferbereiten ausgeschlossen. Er konnte endlich wieder zufrieden in den Spiegel blicken, und auf der Straße hielt er seinen Kopf hoch und streckte die Brust heraus. Er war ein führendes, hoch geschätztes Mitglied im Komitee zur Unterstützung jüdischer Kriegswitwen und Waisen geworden. In dieser Eigenschaft hatte er dem jüdischen Krankenhaus einen Besuch abgestattet und seine Tochter mit streng zurückgekämmtem Haar, Mittelscheitel und in einer blütenweißen Kittelschürze am Krankenlager eines fiebernden Gefreiten entdeckt, dem ausgerechnet sie zu suggerieren versuchte, das Leben sei auch mit einem Bein noch lebenswert.
Johann Isidor hatte Clara seiner Lebtag nicht mit umgebundener Schürze gesehen. Er hätte sein halbes Vermögen verwettet, dass sie nicht imstande war, einen Wasserkessel von einem Suppentopf zu unterscheiden oder einen nassen Fußboden trocken zu wischen. Sie mit geröteten Wangen am Bett eines Mannes vorzufinden, den Kopf geneigt wie die schönen jungen Helferinnen, die gerade bei den Zeichnern in den Zeitungsredaktionen Hochkonjunktur hatten, die grobe Männerhand in ihrer
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