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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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zutraf, wirkten Madame Betsys Roben, Röcke und Blusen aus den edlen Stoffen, die dem Zahn der Zeit so trotzten wie Stolz und Vorurteil in deutschen Bürgerhäusern, reizvoll und reizend. »Wie aus einem Pariser Salon«, fand die stolze Mutter.
    Clara mit dem Seidenhaar, Liebling aller Lehrer und von den Lehrerinnen und Mitschülerinnen gerade deshalb nicht ganz so wohl gelitten, stand trotz der sorgsamen Bewachung ihres eifersüchtigen Zwillingsbruders mit ihren zierlichen Füßen bereits im Leben. Ab Oktober 1915 befand sie sich, sehnsüchtig nach einem Mieter ihres Vaters Ausschau haltend, ungewöhnlich oft auf dem elterlichen Balkon. Wann immer sich die Gelegenheit bot, an der Sünde zu schnuppern, und die Stoßgebete der Lebenshungrigen erhört worden waren, öffnete Amor, der sich weder um Krieg noch um die Moral der Vaterlandsverteidiger scherte, seinen Köcher.
    Kurz nachdem sie das Objekt ihrer Begierde erspäht hatte, befand sich Clara im Hausflur. Sie stand unmittelbar unter der auf Vorkriegspappe montierten Verlautbarung, in der die Treppen-, Keller- und Speicherreinigung für die betreffende Woche geregelt und darauf hingewiesen wurde, dass auch in Kriegszeiten die Mittagsruhe einzuhalten sei. Bis vier Uhr müsste von Klavierspiel und Gesang Abstand genommen werden. Während ihre nichts ahnende Mutter sie bei dem nutzbringenden Näh- und Strickkurs im Prüfling vermutete, schloss Clara ihre katzengrünen Augen. Sie schürzte die vollen Lippen, stellte sich auf die Zehenspitzen und lernte beglückt die Freuden der ersten Liebe kennen.
    Ihr Auserwählter hieß Theodorich Rudolf Berghammer; er war ein erfahrener Mann von einundzwanzig Jahren und der Familie Sternberg ja wohl bekannt, wenn auch schon seit Langem von Johann Isidor als nicht genehm eingestuft. Wie erinnerlich, hatte der junge Berghammer einst Claras ältesten Bruder in die schönen Dinge des Lebens eingeführt. Nun nahm sich Ottos altruistischer Freund, der sich endgültig von den frühen Liebkosungen seiner depressiven Stiefmutter frei gemacht hatte, dessen kleiner Schwester an.
    Zeit für solche Freuden hatte der gut aussehende Theo vorerst reichlich – zwar war er zu Kriegsbeginn Bildberichterstatter gewesen, wurde dann jedoch zu jenen Aufgaben herangezogen, die mehr erforderten als einen klaren Durchblick und eine ruhige Hand. Der Soldat wider Willen war an der Westfront schwer verwundet worden und nach der im Krieg üblichen Odyssee in einem Gießener Lazarett gelandet. Von dort war Theo mit einer Lähmung im rechten Arm und ohne seinen linken Fuß entlassen worden.
    Es sah vorerst nicht so aus, als würde er je wieder einen Fotoapparat halten können, geschweige denn eine Waffe, doch ein schönes junges Mädchen konnte er auch mit seiner Linken so fest umarmen, dass beider Herzen im Dreivierteltakt klopften. Bald machten sich die Verliebten los vom gemeinsamen Fundament ihrer Beziehung. Sie sprachen nur noch wenig von Otto und so gut wie nie von seinem Opfer für das Vaterland, das er ja immer sehr viel mehr geliebt hatte als sein Freund Theo. Der junge Berghammer hatte, wie jeder im Haus wusste, schon früh zum Sozialismus geneigt – er trug immer noch ein rotes Halstuch und keine Krawatte.
    Obwohl die Gegenwart so wenig Zukunft bot, redeten Clara und Theo vom Glück und der Freiheit. Und manchmal auch von einem Brautpaar auf einem Schimmel. In der Dämmerung, wenn es im Hof wohltuend dunkelte und sie vor den Blicken geschützt waren, die jede junge Liebe gefährden, rezitierte Theo jene Gedichte von Heinrich Heine, die eine fünfzehnjährige Schülerin im Deutschunterricht nie zu hören bekam und die sie auch nicht verstand. Trotzdem hatte Clara feuchte Augen. Als im April im Vorgarten die Knospen des Fliederbaums aufsprangen und im Mai die erste Rose blühte und ein Duft durch die Stadt zog, der Heringsersatz und Kohlsuppen vergessen ließ, sprachen sie ausschließlich von ihrer Liebe und reimten seufzend Herz auf Schmerz.
    In solchen Nächten las Clara in dem »Handbuch für Frauenheilkunde«, das sie nach Ottos Tod unter seiner Matratze hervorgezogen und zur späteren Verwendung unter ihrer Wäsche versteckt hatte. Ebenso wie einst ihm, machte es ihr Schwierigkeiten, die Zeichnungen zu deuten und die Fachwörter zu verstehen. In dieser erregenden Zeit sah sie sich mehrmals genötigt, von ihrem Bruder ein Schweigegelübde zu erpressen. »Sonst«, befürchtete die Listige, »könnte mir ja doch irgendwann herausrutschen, dass mein

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