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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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zierlichen haltend, war freilich ein Schock für einen Patriarchen, der alles von seiner Familie zu wissen glaubte. Trotzdem sagte er im Moment der Entdeckung kein einziges Wort. Er wurde nur ein wenig rot, als wäre er derjenige, der vom Weg der Redlichkeit abgekommen war. Als er mit seinen Gremiumskollegen den Schauplatz des überraschenden Geschehens verließ, hatte er Rückenschmerzen und hinkte.
    Nach der Trennung von Fritzi Haferkorn und weil ihm sein Gewissen immer noch nicht die Ruhe gönnte, die ein Mann zum Vergessen seiner Verfehlungen braucht, war Johann Isidor sehr darauf bedacht, sich ebenso gründlich mit seiner Familie wie mit Deutschlands Lage zu beschäftigen. Ehe er Claras Zukunft neu bestimmte, vergingen sieben grüblerische Nächte. Am achten Tag erzählte er seiner Frau, wo er seiner Tochter begegnet war. Ehe Betsy auch nur dazu kam, ein missbilligendes Wort zu äußern, lobte er, was er zunächst nicht beabsichtigt hatte, ihre Selbstständigkeit und Initiative. »Sie hat begriffen«, sagte er mit dem Pathos, das seine Zwillinge hinter seinem Rücken despektierlich als »Spießers täglich Brot« bezeichneten, »dass wir jetzt jede helfende Hand brauchen.«
    Clara durfte – eine zufriedenstellende Erledigung der Schulaufgaben vorausgesetzt – also weiter im jüdischen Krankenhaus arbeiten. Die Situation war Johann Isidor sehr viel angenehmer, als ihm im ersten Schrecken bewusst geworden war. Es hatte ihn schon längere Zeit gewurmt, dass Betsy nicht, wie mittlerweile die meisten Ehefrauen seiner Freunde und Bekannten, ihren Beitrag zu Deutschlands Wohlergehen leisten konnte. Zunächst hatte sie die Schwangerschaft von jeder karitativen Betätigung ferngehalten, nun Alices Versorgung. Endlich konnte Johann Isidor, wenn die Rede auf den Einsatz der tapferen deutschen Frauen kam, die in der Heimat ebenso viel leisteten wie die Helden an der Front, mit Stolz auf seine fünfzehnjährige Tochter verweisen. Anders als viele Gleichaltrige zupfte Clara nicht Binden oder strickte Wollsocken für die Soldaten im Schützengraben. Sie putzte nicht den Kriegswaisen die Nase und half ihren trauernden Müttern die Fußböden schrubben und Betten frisch beziehen. »Sie trägt die Last und Verantwortung einer erwachsenen Frau«, erzählte ihr Vater Doktor Meyerbeer.
    »Da wird sie bald einen Doktor heiraten«, entgegnete der nüchtern.
    Clara selbst beschrieb ihre Tätigkeit nie mit den hehren Worten der Zeit. Sie genoss die zwei Nachmittage, die sie im Krankenhaus verbrachte, aus übervollem Herzen. Montag und Donnerstag brachten ihr die lang ersehnte Freiheit – und eine berauschende Bestätigung ihrer Weiblichkeit. Von den Todgeweihten wurde sie ihrer Jugend wegen ferngehalten, den Genesenden verdrehte sie den bandagierten Kopf. Auch so mancher Arzt fand Zeit zu einem kurzen Tagtraum, wenn der lächelnde Engel an ihm vorüberschwebte. Ein Poet mit Stethoskop statt gesatteltem Pegasus nannte Clara ein Licht in der Finsternis und bat um ihre Hand. »Wenn es der gnädige Herr Vater erlaubt.«
    Der gnädige Herr Vater schüttelte den Kopf, als er von dem Antrag erfuhr. Noch weniger aufgeschlossen zeigte er sich, als seine Tochter ihm ihre Absicht mitteilte, entweder sichere er ihr zu, sie dürfe nach dem Abitur Medizin studieren, oder sie würde umgehend von der Schule abgehen. »Wenn du es möchtest, melde ich dich gleich morgen ab«, schlug Johann Isidor vor, »ein Mädchen in deinem Alter zwingt kein Vater mehr, in die Schule zu gehen. Das kostet nur Geld und bringt nichts. Einen Blaustrumpf, der noch dazu nach Karbol riecht und jeden Mann in die Flucht schlägt, wird es in dieser Familie nicht geben. Im Übrigen wird es dein Bruder sein, der seinen Doktor macht.«
    Wenn er auch eine Aversion hatte, mit Frauen zu diskutieren, und er Clara zu häufig ihren Platz im Leben zuweisen musste, war Johann Isidor nicht unzufrieden. An guten Tagen meinte er gar, er würde lernen, Ottos Tod als das Opfer zu akzeptieren, das jeder deutsche Vater zu erbringen bereit sein musste. Zu Silvester gestattete sich der gute Deutsche gar einen Blick in die Zukunft. Noch immer gehörte er zu des Kaisers Getreuen, die nicht die Niederlagen zählten, sondern die kleinen Lichtblicke. Er vertraute den deutschen Offizieren und setzte auf den deutschen Mut. Johann Isidor Sternberg war überzeugt vom deutschen Sieg und dass der Krieg nicht mehr lange dauern würde.
    Als Geschäftsmann hatte er allerdings genau zu kalkulieren gewusst. In

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