01 Das Haus in der Rothschildallee
Sternberg’sche Nachkömmling war nicht nur eine Kinderschönheit. Sein Gemüt wurde von allen, die das Baby mit seinem Lächeln verzauberte, als ein Sonnenstrahl in dunkler Zeit empfunden. Selbst Alices kritische Schwester Clara machte da keine Ausnahme und zum Glück für die gesamte Familie der Milchmann in der Höhenstraße auch nicht. Parkte die Einjährige in ihrem weiß lackierten Korbwagen vor seiner Ladentür, oder krähte sie, ihre Stoffpuppe schwenkend, auf Mutters Arm, schüttete der bei seiner übrigen Kundschaft als misanthropisch verschriene Geschäftsmann grundsätzlich mehr in Madame Sternbergs Kanne, als ihr zukam.
Alice vermochte sogar ihren Vater freundlich zu stimmen. Sobald sie von einem Sessel zum nächsten und an dem Tisch mit den Löwenfüßen vorbeikrabbeln konnte, sorgte sie durch schamlos kokettes Verhalten dafür, dass der Hausherr ihr allabendlich einen Platz auf seinem rechten Knie einräumte, wo er sie mit den aufregenden Klappdeckeln und der klimpernden Kette seiner goldenen Taschenuhr spielen ließ. Der Vater verübelte ihr noch nicht einmal, dass sie auf seine Hausweste aus billardgrünem Samt spuckte; er nannte sie auf gut Hessisch eine Wutz und streichelte ihr Kinn.
Auch für ihre Mutter war der Unschuldsengel Seelenbalsam. In dem Jahr, das auf Alices Geburt folgte, lernte Betsy, den Schmerz um ihren Ältesten so tief zu vergraben, dass sie wieder über ihre zwei jüngsten Kinder lachen konnte. Manchmal sang sie dem fröhlichen Baby die Lieder aus Humperdincks »Hänsel und Gretel« vor, die schon Victoria entzückt hatten, und gelegentlich kamen vom so lange Zeit nicht mehr angerührten Flügel die Musikstücke, die sie einst mit ihren lernunwilligen Zwillingen hatte einüben wollen. Betsys Wandlung war tatsächlich ein kleines Wunder, denn ihre Jüngste hatte sich ausgerechnet den Wintergarten als Klassenraum und den Papagei als Sprachlehrer ausgesucht. Ihr erstes verständliches Wort war also »Otto«. Seitdem übte Alice den Namen des Schmerzes mit der Ausdauer von Forschern, die glauben, sie hielten den Schlüssel zu einer unbekannten Welt in der Hand.
Zu Alices erstem Geburtstag wurde eine kleine Feier geplant, die selbstverständlich den schwierigen Umständen des Alltags Rechnung tragen würde. Doktor Meyerbeer und seine Frau sollten kommen und auch Theo Berghammer, der sich seit seiner Heimkehr von der Front gegenüber den Sternbergs so wohltuend höflich und hilfsbereit zeigte. Obwohl der bedauernswerte junge Mann seinen Fotoapparat nur mit Mühe halten konnte, hatte er wunderschöne Bilder von der kleinen Alice gemacht – und ein herrliches Porträt von Clara im Wintergarten, eine blühende gelbe Begonie im Hintergrund. Clara war unerwartet in dem Moment nach Hause gekommen, als Theo an der Wohnungstür geklingelt hatte.
Auch Schwester Grete Neger sollte zur Geburtstagsfeier eingeladen werden. Zum Erstaunen der Sternbergs war sie seit Alices Geburt der Familie freundschaftlich verbunden. Der dankbare Hausherr hatte die tüchtige Hebamme nämlich auf ihren Wunsch hin nicht mit der Papierwährung entlohnt, für die sich die Menschen immer weniger kaufen konnten, sondern mit den allerorten begehrten Naturalien. »Und das äußerst großzügig«, pflegte Schwester Neger im kleinen Kreis zu berichten. Bei Vertrauten, die sie wesensverwandt dünkte, schaute sie gar himmelwärts, als erbitte sie Gott um Absolution, und danach fügte sie mit ihrem liebenswürdigen rheinischen Singsang hinzu: »Die Juden haben’s ja.«
Unweit von Frankfurt vollzog sich ähnlich Unerwartetes. Im Februar, sieben Tage vor dem kleinen Fest zu Ehren der einjährigen Alice, kam es zu einem hässlichen, absolut nicht zu erwartenden Familienstreit in Bad Nauheim. Für diejenige, die den Krieg nicht begonnen hatte, sollte er ebenso fatale Folgen haben wie die Schüsse von Sarajevo. Hatten jene zu einem Weltbrand von nicht voraussehbarem Ausmaß geführt, so blieben die Auswirkungen der Nauheimer Zimmerschlacht ausschließlich auf die Wohnung im ersten Stock der Frankfurter Rothschildallee 9 beschränkt. Zunächst war das Bad Nauheimer Duell lediglich als ein herzerwärmender Beweis für die Loyalität der Josepha Krause gegenüber der Familie zu werten, für die sie mehr als fünfzehn Jahre gekocht, gebraten und gebacken hatte, mit der sie lachte und litt und die sie längst als ihre eigene empfand.
Josepha war es nach den üblichen diffizilen Verhandlungen mit ihrer sauertöpfischen und
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