01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
lassen. Das Gefühl der Demütigung hatte sie draußen auf der Treppe veranlaßt, sich vor ihm zurückzuziehen, aber seitdem hatte sie viel nachgedacht. Mit unsicherer Hand zog sie den Riegel an der Tür auf.
Patrick musterte sie besorgt, ehe er sprach. »Wie fühlen Sie sich?«
»Den Umständen entsprechend, denke ich.« Zerstreut berührte Hannah ihr bandagiertes Handgelenk. »Dr. Percy hat gesagt, morgen würde ich mich wahrscheinlich wie eine Hundertjährige fühlen. Der Prozeß hat schon angefangen.«
Er folgte ihr ins Wohnzimmer und legte, als sie sich setzte, fürsorglich die Decke um sie. Nachdem er sich einen Sessel herangezogen und sich so gesetzt hatte, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte, sagte er mit entwaffnender Offenheit: »Duncan Kincaid glaubt, ich könnte Sie die Treppe hinuntergestoßen haben, obwohl er, höflich wie er ist, es nicht direkt gesagt hat.« Patrick lächelte. »Hannah«, das Lächeln verschwand ganz, »glauben Sie, daß ich Sie gestoßen habe?«
Sie schüttelte müde den Kopf. »Nein. Ehrlich nicht.« Zum erstenmal seit er ins Zimmer gekommen war, sah sie ihm in die Augen. Er schien im Lauf eines einzigen Tages zehn Jahre gealtert zu sein. Feine Linien, die sie vorher nicht bemerkt hatte, kräuselten sich rund um seine Augen. Es war fast so, dachte Hannah, als wäre eine Maske von seinem Gesicht gezogen worden, und er säße jetzt mit entblößten Zügen vor ihr.
Er seufzte. »Dann ist es ja gut. Aber ich mache mir Sorgen um Sie - um dich, Hannah. Wenn man nicht weiß, warum etwas geschieht, ist es sehr schwer, ihm ein Ende zu bereiten.«
Hannah antwortete nicht. Sie fühlte sich zu erschöpft, um von neuem ihre Unwissenheit zu beteuern. Nach einer kleinen Weile fuhr Patrick zu sprechen fort.
»Ich war gemein zu dir, heute morgen. Ich weiß selbst nicht, warum. Wahrscheinlich sind in dem Moment zu viele Kinderphantasien über mich hereingebrochen.« Als er ihr verwundertes Gesicht sah, versuchte er zu erklären. »Ach, du weißt schon. Erst habe ich meine Mutter als Camille gesehen«, er hob eine Hand zu seiner Stirn und grinste, »die im Kindbett starb und mich mit ihrem letzten schwachen Atemzug segnete. Später habe ich sie mir warm und weich und liebevoll vorgestellt - eines Tages würde sie mich finden und in den Schoß einer anderen Familie aufnehmen. Die typische Phantasie eines Einzelkindes. Niemals«, er beugte sich vor und lächelte sie wieder an, »habe ich sie mir als erfolgreiche und intelligente Karrierefrau vorgestellt, niemals anregend und attraktiv. Es war ein ganz schöner Schock, das kann ich dir sagen.«
Hannah, die sich plötzlich bewußt wurde, wie sie aussehen mußte, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Es tut mir leid«, sagte sie und wußte selbst nicht, ob es ihr leidtat, daß sie ihn so überfallen hatte mit ihrer Enthüllung, oder daß sie nicht seinem Mutterbild entsprach.
»Es tut dir leid? Du lieber Gott, diesem ganzen Kinderkram hätte ich doch längst entwachsen sein müssen. Und ich habe dich nicht einmal nach meinem Vater gefragt.«
Hannah spürte die Verletzlichkeit unter seinem heitergelassenen Gebaren.
»Meinen Eltern habe ich nie gesagt, wer er war, aber du verdienst es, wenigstens etwas zu wissen«, sagte sie widerstrebend. »Er hieß Matthew Carnegie. Eine gute Familie.« Sie verzog ein wenig den Mund. »Wie mein Vater es formuliert hätte. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, ich wollte es nicht wissen. Ich wollte ihn nie Wiedersehen.« Sie riß die Mauer ein, die sie im Lauf der Jahre hochgezogen hatte, und dachte zurück, versuchte sich zu erinnern, was die sechzehnjährige Hannah damals zu Matthew hingezogen hatte. »Er war blond - das hast du von ihm - und gutaussehend, natürlich noch unfertig, linkisch. Er hat mich zum Lachen gebracht.« Diese Erinnerung überraschte sie. »Und er war sehr sanft.«
Patrick ließ sich einen Moment Zeit, um das zu verarbeiten, und nickte. »Es muß dich eine Menge Mut gekostet haben, deinen Eltern nichts von ihm zu sagen.«
»Mut? Nein, das war reine Sturheit. Und außerdem wußte ich, daß ich die Demütigung nicht ertragen würde, wenn er es erfahren sollte, wenn seine Familie es erfahren sollte.«
Patrick beugte sich wieder vor und sah sie mit brennendem Blick an. »Hannah, glaubst du, wir könnten noch einmal anfangen? Vielleicht nicht so, wie jeder von uns es sich vorgestellt hat - wir waren beide ziemlich unrealistisch
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