01 Das Hotel im Moor 02 Alles wird gut
lassen.« Kincaid musterte Anne beifällig. Unter einem gelben Lackmantel ’ trug sie fuchsienfarbene Leggins und dazu ein passendes langes Oberteil mit breiten Streifen. Mit Kincaids Bild von einer Landärztin hatte sie absolut nichts gemein.
»Was ist denn so lustig?« fragte Anne, als sie das breite Lächeln auf seinem Gesicht sah.
»Ich dachte gerade an unseren ruppigen alten Hausarzt, der uns verarztet hat, als wir klein waren.«
Sie blickte an sich hinunter und lachte. »Naja, die Zeiten ändern sich eben. Gott sei Dank.« Ihr Blick ging zu ihrer Uhr. »Aber manches andere scheint sich nie zu ändern. Ich bin schon wieder zu spät dran. Die Mädchen warten auf ihr Abendessen. Ich muß mich beeilen, tut mir leid.«
Er war plötzlich verlegen, als sei er daran schuld, daß sie ihre Pflichten vergessen hatte, doch er sagte recht ruhig:
»Ja. Kommen Sie, ich bringe Sie hinaus.«
Ihr gelber Mantel raschelte und quietschte, als sie hinausgingen, und einmal streifte ihr Arm leicht den Kincaids. Als sie den Wagen erreichten, öffnete sie die Tür und warf ihr Köfferchen hinein. Dann drehte sie sich nach Kincaid um. Er stand ihr nahe genug, um den Lavendelduft wahrzunehmen, der von ihr ausging - ein sauberer, angenehmer Duft -, und er suchte nach einem Wort, das sie vielleicht doch noch einen Moment zurückhalten würde. »Vielen Dank. Das war alles ziemlich scheußlich für Sie, denke ich mir.«
Anne lächelte. »Oh, der Tod ist mir vertraut. Die Umstände waren hier anders. Aber morgen ist der Amtsarzt sowieso aus dem Urlaub zurück, dann habe ich keinen Notdienst mehr.«
»Tut mir leid«, sagte Kincaid in das Schweigen hinein, das zwischen ihnen hing.
»Ja, mir tut es auch leid«, antwortete Anne Percy, als sie in ihren Wagen stieg. Kincaid sah ihr nach, als sie davonfuhr, und wußte nicht, was sie beide eigentlich gemeint hatten.
Am selben Abend fuhr Gemma in nördlicher Richtung die Banbury Road hinauf. Große, stattliche Häuser flankierten die Straße zu beiden Seiten, warm und einladend im Glanz ihrer erleuchteten Fenster. Das herbstlich gefärbte Laub der alten Bäume in den Gärten wirkte wie ausgebleicht im schwindenden Licht.
Sie war nie zuvor in Oxford gewesen - nie hatte ein Fall sie hierher geführt, und es war ganz sicher kein Ort, den ihre Eltern für einen Urlaubsaufenthalt gewählt hätten. Ihre Eltern fuhren, soweit sie zurückdenken konnte, jedes Jahr zur gleichen Zeit für zwei Wochen in dasselbe Dorf in Cornwall - ein hübscher, zuverlässiger Ort und nicht im mindesten abenteuerlich.
Sehr zu ihrer Überraschung war Gemma bezaubert von der Stadt. Nachdem sie sich durch die Vermittlung der Haushälterin einen Abendtermin bei Miles Sterrett gesichert hatte, blieben ihr mehrere Stunden freie Zeit, die sie dazu nutzte, die Stadt zu erforschen. Vom Cornmarket bis zum Magdalen College hinunter und zum Fluß lockten die Stillen, grünen Innenhöfe der Colleges.
Sie ging langsam, den Kragen ihrer marineblauen Jacke gegen den Wind hochgeschlagen, und als sie die Brücke über den Cherwell erreichte, stützte sie die Ellbogen auf die Brüstung und sah den Booten zu, die leicht wie Wasserflöhe über das Wasser huschten.
Ein Universitätsstudium hatte so weit außerhalb ihrer Möglichkeiten gelegen, daß sie andere nie um dieses Privileg beneidet hatte, aber jetzt plötzlich verspürte sie eine flüchtige Trauer um eine verpaßte Gelegenheit. Kincaid hatte ihr einmal bei einem Bier nach der Arbeit erzählt, daß er die Möglichkeit gehabt hätte, mit einem Polizeistipendium zu studieren, aber er hatte sich nie beworben. »Verspätete Rebellion, vermute ich«, hatte er gesagt und dabei leicht spöttisch eine Augenbraue hochgezogen. »Das wäre den Wünschen und Erwartungen meiner Eltern zu sehr entgegengekommen. Jetzt finde ich es ziemlich albern, daß ich die Chance damals nicht genutzt habe.«
Oxford, dachte Gemma, als sie in die Seitenstraße einbog, die sie am Nachmittag übersehen hatte, wäre für Kincaid das Richtige gewesen.
Die Julia Sterrett Klinik sah genau so aus, wie der Name vermuten ließ - ein großes Privathaus in einer ruhigen Seitenstraße der Banbury Road. Auskunft über das wahre Wesen des Hauses gab lediglich ein diskretes Schild, das in den Backstein neben der Haustür eingelassen war. Gemma läutete und wartete, und nach einem Moment hörte sie schwerfällige Schritte und das Geräusch der Riegel, die
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