01 - Der Geist, der mich liebte
begannen zu zittern. »Ms Mitchell?«
Ich fuhr mir durch die Haare. »Gestern Abend. Gegen halb elf. Ich war bei Adrian Crowley. Tess hat ... sie hat mich abgeholt. Auf dem Heimweg haben wir uns gestritten. Ich bin ausgestiegen und zu Fuß nach Hause gegangen«, sprudelte es aus mir hervor. »Ich wollte gerade zu ihr, um mich bei ihr zu entschuldigen. Ich wollte mich entschuldigen ... ich ... wie soll ich das jetzt noch tun?« »Worum ging es in diesem Streit?« Ich sah auf. »Stehe ich unter Verdacht?« Er schüttelte den Kopf. »Dazu gibt es keinen Anlass. Ich muss alles wissen, was uns helfen könnte, ihren Mörder zu fassen.«
Mörder. Warum versuchen Sie es nicht in meinem Haus? Legen Sie dem Geist von Nicholas Crowley Handschellen an! Nicholas war auch der Grund für unseren Streit, aber das konnte ich dem Sheriff wohl kaum sagen. »Ich weiß nicht mehr, worum es genau ging. Es war völlig banal. Ich war schlecht gelaunt. Das habe ich an ihr ausgelassen.«
Erstickt.
Der Sheriff nickte. »Das genügt mir fürs Erste. Soll ich jemanden anrufen, der sich um Sie kümmert? Einen Freund oder eine Freundin? Verwandte?«
Die einzige Freundin, die ich hier hatte, war tot. Ich dachte an Adrian, doch im Augenblick sah ich mich seiner Fürsorge nicht gewachsen. »Danke. Ich komme schon klar.«
»Brauchen Sie einen Arzt? Soll er Ihnen etwas zur Beruhigung geben?«
Ich schüttelte den Kopf. Keine Drogen, ich brauchte jetzt einen klaren Verstand.
»In Ordnung. Bleiben Sie einfach so lange hier sitzen, bis Sie sich besser fühlen.« Für einen Moment noch ruhte sein besorgter Blick auf mir, dann sagte er: »Das ist vielleicht nicht der geeignete Zeitpunkt dafür, aber ich brauche noch die Unterschrift auf Ihrer Aussage. Wegen des Landstreichers.«
»Kann ich das morgen machen?«
»Sicher. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie es nicht
vergessen.«
Wie könnte ich ? Immerhin ging es um die Nacht, nach
der sich alles geändert hatte. »Ich komme morgen in Ihr Büro. Versprochen.«
Er nickte. »Geben Sie auf sich acht.«
Mein Blick folgte Sheriff Travis, als er zum Tatort zurückkehrte. Tatort. Allein das Wort klang grauenvoll. Dort war eine Freundin von mir gestorben. Wie konnte man dafür einen derart kalten und gefühllosen Begriff wählen?
Lange Zeit saß ich einfach nur da und starrte vor mich hin, ohne dabei etwas von meiner Umgebung wahrzunehmen. Ich war allein. Keine Polizisten, keine Spurensicherung, die zweifelsohne inzwischen aus Seattle eingetroffen war, keine Blaulichter. Niemand störte mich. Es war, als hätten die Schatten mich komplett verschluckt, und jetzt war ich nicht länger ein Teil dieser Welt. Natürlich war das Blödsinn. Trotzdem konnte ich mich nicht erinnern, dass ich mich je zuvor derart einsam und hilflos gefühlt hätte. Immer wieder gingen mir die Worte des Sheriffs durch den Kopf. Erstickt.
Ich weigerte mich, den Gedanken weiterzuverfolgen, doch er ließ mich nicht mehr los. Wäre das dieselbe Todesursache gewesen, die man auch mir bescheinigt hätte, wenn Nicholas gestern nicht von mir abgelassen hätte ? Ich hielt es für ziemlich wahrscheinlich. Gleichzeitig war es unmöglich. Nicholas konnte den Umkreis des Friedhofs nicht verlassen. Er konnte nicht einfach nach Cedars Creek marschieren und Tess umbringen!
Bis gestern hatte es zwei Menschen in meinem Leben gegeben, denen ich mich jederzeit bedenkenlos anvertraut
hätte. Doch Tess war tot und Nicholas ... Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass auch ich in Gefahr sein könnte. Wenn Nicholas einen Weg gefunden hatte, sich frei zu bewegen, suchte er jetzt womöglich nach mir. Was, wenn er Tess' Leben genommen hatte, um lebendig zu werden? Ich war die Einzige, die wusste, wer er war und woher er kam. Die Einzige, die sein Tun aufdecken konnte.
Ich fragte mich gerade, ob Adrian ebenfalls in Gefahr war und ob ich ihn warnen sollte, als ich die Kälte spürte. Ein eisiger Hauch, der mich plötzlich wie ein Mantel umgab, ein vertrautes Gefühl, das während der vergangenen Tage mein ständiger Begleiter gewesen war. Jetzt, weit fort von meinem Haus und vom Friedhof, ließ es mich auffahren. Ich sprang auf und wich tiefer in die Schatten zwischen den Häusern zurück. Die frostige Kühle folgte mir. Er folgte mir.
Es kostete mich alle Kraft, die ich aufbringen konnte, nicht schreiend davonzulaufen. Das hätte bei den Polizisten einige Fragen aufgeworfen, die ich nie im Leben befriedigend hätte beantworten können. Um nicht doch
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