01 - Der Geist, der mich liebte
der Hut zu sein. Sobald er jedoch erfahren würde, was geschehen war, würde er sich kaum davon abhalten lassen, zu mir zu kommen. Sosehr ich mich nach ein wenig Gesellschaft und Trost sehnte, so wenig wollte ich Adrian in der Nähe haben. Nicht, wenn die Gefahr bestand, dass er mein Vorhaben, in Tess' Haus einzudringen, durchkreuzen würde. Nicht in böser Absicht, sondern weil es mir womöglich nicht gelingen würde, ihn davon zu überzeugen, dass es tatsächlich einen Geist gab und dass dieser Geist gebannt werden musste. Nach einer Weile kam mir ein anderer Gedanke. Was, wenn Nicholas es auf Adrian
abgesehen hatte? Ich schüttelte den Kopf. Er hatte Adrian mit seinem Bruder verwechselt. Wenn überhaupt, dann ... Adrian senior! War es das? Hatte Nicholas damals doch versucht, seinen Bruder umzubringen, und war gescheitert? Wollte er jetzt zu Ende bringen, was ihm damals nicht geglückt war? Tess hatte etwas von unerledigten Aufgaben erzählt, die einen Toten an die Welt binden konnten. Das war es! Nicholas würde so lange umhergeistern, bis er den Mord ausgeführt hatte, bei dessen Versuch er ums Leben gekommen war! Von wegen schlechtes Gewissen!
Ich redete mir ein, dass weder Adrian noch sein Großvater in Gefahr sein konnten, solange ich Nicholas in meiner Nähe spürte. Falls ich merkte, dass Nicholas nicht mehr da war, würde ich Adrian sofort anrufen und ihn warnen.
Am späten Nachmittag bog eine ganze Kolonne von Polizeifahrzeugen in die Main Street ein und fuhr in Richtung des Sheriffbüros. Für einen Ort wie Cedars Creek musste ein Mord ein erschütterndes Ereignis sein. Etwas, was es sonst nur in Filmen oder den Nachrichten gab. Entsprechend viele Menschen standen nun auf der Straße und beobachteten die Kolonne aus Polizeifahrzeugen bei ihrem Abzug.
Eine halbe Stunde später verließ ich das Diner und kehrte in die Hampton Road zurück. Nicholas folgte mir. Allmählich begann ich mir Sorgen zu machen. Im Diner hatte ich keine Angst gehabt, dass er mir etwas antun könnte. Sobald wir jedoch allein waren ...
Vor Tess' Haus waren ein paar Polizisten damit beschäftigt, die letzten Spuren ihrer Anwesenheit zu beseitigen. Ich blieb ein paar Häuser entfernt zwischen einigen Bäumen stehen und wartete. Bald würde es dunkel werden. Dann würde ich Nicholas sehen können. Ein Teil von mir fürchtete sich davor. Ich hatte Angst, dieselbe Bedrohlichkeit in seinen Zügen zu lesen, die ich schon gestern darin gefunden hatte. Trotzdem war es besser, wenn ich ihn sehen konnte. Das würde es ihm schwerer machen, mich anzugreifen. Ich würde seine Angriffe kommen sehen und konnte mich entsprechend wehren. Das hoffte ich zumindest.
Als endlich der letzte Polizeiwagen davonfuhr, dämmerte es bereits. Ich verließ mein Versteck zwischen den Bäumen und überquerte die Straße. Ohne mich umzusehen, folgte ich dem Weg, den mich der Sheriff heute Morgen zwischen den Häusern entlanggeführt hatte. Ich tat, als wäre es für mich das Normalste der Welt, hier zu sein. Keine Ahnung, ob mir die Nachbarn das tatsächlich abgekauft hätten. Zu meinem Glück sah mich niemand. Vermutlich saßen sie längst im Diner, in der Bar oder den anderen Lokalen und sprachen über den schrecklichen Mord. Tratschend und spekulierend, was wohl geschehen war.
In den Schatten zwischen den Häusern blieb ich stehen. Ich lehnte mich an die Garagenwand und nahm all meinen Mut zusammen. Dann huschte ich an der Wand entlang auf die Rückseite des Hauses. Ein mannshoher Holzzaun trennte das Grundstück von dem der Nachbarn dahinter, sodass ich mit ein wenig Glück unbemerkt bleiben würde. Ich schlich zum ersten Fenster und rüttelte daran. Was machte ich hier! Mir blieb beinahe das Herz stehen, als mir
klar wurde, dass ich im Begriff war, in das Haus einer Ermordeten einzubrechen. Wenn mich jemand erwischte, stand ich schnell ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Mit dem Jackenärmel wischte ich über die Stellen, wo ich die Wand und das Fenster berührt hatte. Hoffentlich genügte es, um meine Fingerabdrücke zu verwischen.
Ich zog die Jacke aus und legte sie so über meine Hand, dass ich alles, was ich greifen würde, nur durch den Stoff berührte. Keine Fingerabdrücke. Keine Beweise. Nachdem ich es auch an den übrigen Fenstern und der Terrassentür vergebens versucht hatte, hob ich einen Stein auf. Ich sah mich kurz nach allen Seiten um, dann schlug ich die Scheibe der Terrassentür ein. Klirrend zersprang das Glas und rieselte in
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