01 - Der Geist, der mich liebte
schnell wieder zunichte. Das musste die Crowley Distillery sein. Tante Fiona hatte mir von der Schnapsbrennerei erzählt, dem größten Arbeitgeber in Cedars Creek.
Obwohl mir noch immer nicht der Sinn danach stand, in ein leeres Haus zu gehen, in dem mich alles an Tante Fiona erinnern würde, öffnete ich jetzt endlich die Autotür und stieg aus. Hauptsächlich wohl, weil ich nach der langen Fahrt schon nicht mehr wusste, wie ich sitzen sollte.
Nach der Hitze im Auto (der Käfer hat keine Klimaanlage) war die frische Luft herrlich. Es war schon nach sechs und die Sonne würde bald untergehen. Dennoch war es für Mitte September noch erstaunlich warm.
Ich stand vor der offenen Wagentür und reckte meine steifen Glieder, während ich meine Augen über die Umgebung wandern ließ. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stieg das Land langsam an. Die Straße schlängelte sich einen bewaldeten Hügel hinauf, ehe sie im Schatten des Waldes außer Sicht verschwand. Bäume und Farne glühten in den feurigen Rot- und Orangetönen des Indian Summer. Ein starker Kontrast zum strahlend blauen Himmel. Tante Fiona hatte immer davon geschwärmt, wie wundervoll der Herbst in Cedars Creek sei. Beim Anblick des Waldes bekam ich zum ersten Mal das Gefühl, dass sie nicht übertrieben hatte. Auf der Kuppe erspähte ich, halb hinter Bäumen
verborgen, ein prächtiges Herrenhaus. Selbst von hier unten sah es riesig aus. Wie ein verwunschenes Haus aus dem Märchen. Bei dem Gedanken musste ich grinsen. Ich fragte mich, wer wohl dort leben mochte.
Womöglich würde ich es ja herausfinden.
Dieses Haus, der verschlafene Ort, einfach alles hier wirkte auf mich, die ich an die Hektik der Großstadt gewöhnt war, seltsam und fremd. Schwer vorstellbar, dass Seattle keine zwei Autostunden entfernt lag.
Ich nahm meinen Rucksack vom Beifahrersitz - meine restlichen Sachen würde ich später holen - und wandte mich dem Haus zu. Nach allem, was ich bisher gesehen hatte, war es das einzige Haus in der Straße. Das letzte Haus am Ortsrand. Großartig. Das würde es nicht gerade leicht machen, einen Käufer zu finden. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass jemand so abgeschieden leben wollte.
Die ganze Straße war von hohen Ahornbäumen gesäumt, deren Blätter in herbstlichen Flammen standen. Rechts und links der Straße sah ich nichts weiter als wild wuchernde Wiesen voller Herbstblumen, immer wieder von vereinzelten Bäumen und Farnen durchbrochen. Auf der einen Seite gingen die Wiesen schließlich in den Hügel über. Auf der anderen Seite, in Richtung Cedars Creek, stand eine Kirche - das einzige Gebäude in der näheren Umgebung. Ein karmesinroter Holzbau mit weiß gestrichenen Kanten, der sich keine zweihundert Meter hinter Tante Fionas Haus aus dem Gras erhob. Trotz des kleinen Glockenturms hatte der Bau mehr Ähnlichkeit mit einer Scheune als einer Kirche.
Wenn ich die Augen zusammenkniff, glaubte ich, daneben einen Parkplatz und dahinter eine Straße ausmachen zu können.
Ich kramte den Schlüsselbund, den mir der Testamentsvollstrecker gegeben hatte, aus meiner Jeanstasche und ging zur Garage. Der Öffnungsmechanismus war einfach. Wenn man keine Fernbedienung hatte, steckte man den Schlüssel ins Schloss und schob das Tor nach oben. Das Schloss klemmte jedoch und ließ sich auch nach mehrfachen Versuchen nicht öffnen. Ich beschloss, es mir später anzusehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es jemand hier mitten im Nirgendwo auf meinen klapprigen Käfer abgesehen haben sollte, erschien mir ohnehin eher gering. Vermutlich musste ich den Wagen nicht einmal abschließen.
Ich schwenkte nach links und ging über einen schmalen gepflasterten Weg zum Haus. Obwohl der Rasen seit Tante Fionas Tod gewachsen war, wirkte der Vorgarten verglichen mit den hüfthohen Gräsern in der Umgebung noch immer erstaunlich gepflegt. Zwei große Ahorne warfen lange Schatten über den Rasen und auf das Dach der Veranda.
Die Holzbohlen knarrten leise, als ich die beiden Stufen erklomm und die Veranda überquerte. Die Hitze des Tages hatte sich unter dem Vordach aufgestaut. Kein Lüftchen regte sich. Erneut griff ich nach dem Schlüsselbund und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein leises Klicken erklang, dann drehte ich den Griff herum. Im Gegensatz zum Garagentor ließ sich die Haustür problemlos öffnen. Ich stieß sie auf und erwartete einen Schwall warmer, abgestandener
Luft. Stattdessen kroch mir ein kalter Luftzug entgegen. So kühl, dass ich
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