01 - Der Geist, der mich liebte
zu schreien, schlug ich mir die Hand vor den Mund. Meine Finger zitterten so sehr, dass ich die eine Hand mit der anderen stützen musste.
So weit ich auch zurückwich, die Kälte verzog sich nicht. Zitternd und schwer atmend stand ich da, die Hand noch immer vor dem Mund. Ein Umstand, der längst nicht mehr nur meine Schreie unterdrücken sollte. Inzwischen war mir klar geworden, dass Nicholas - solange ich mir den Mund zuhielt - nur schwerlich imstande sein würde, meinen Atem
zu nehmen. Ich würde mich nicht von ihm überrumpeln lassen, wie es ihm sichtlich bei Tess gelungen war!
Obwohl die Temperatur nicht anstieg, spürte ich, dass er auf Abstand blieb. Da war kein prickelnder Hauch auf meiner Haut, der von seiner Berührung zeugte, keine Kälte in meinem Gesicht. Nur die kalte Umgebung. Allmählich bekam ich meinen Verstand wieder klar.
Es mochte ihm gelungen sein, den Umkreis des Friedhofs zu verlassen und Tess zu ermorden. Doch lebendig war er noch immer nicht. Er konnte mich nicht berühren und mir nichts antun. Nicht, solange ich nicht zuließ, dass er meinen Atem bekam!
Zweifelsohne würde er versuchen, mich umzubringen. Nicht nur, um auf meine Kosten ins Leben zurückzukehren, sondern auch, um den einzigen Menschen aus dem Weg zu räumen, der wusste, wer er war und was er getan hatte.
An mir würde er sich die Zähne ausbeißen!
Es kam jetzt darauf an, dass ich schneller war als er. Ich musste einen Weg finden, seinen Geist zu bannen. Ob er dabei seinen Frieden fand, war mir vollkommen egal. Hauptsache, er war weg! Aber wie sollte ich das anstellen? Das geheime Archiv! Von dort hatte Tess das Buch mit den Beschwörungsformeln gehabt. Was man beschwören konnte, musste man auch wieder loswerden können. Ich brauchte Zugang zu den Büchern.
Das war der schwierige Teil. Ich konnte ja kaum zu Mr Owens marschieren und ihm auf den Kopf zusagen, dass ich in sein Archiv musste. Abgesehen davon, dass er mich nicht hineinlassen würde, würde ich damit einige Fragen provozieren und im schlimmsten Fall die Aufmerksamkeit des Sheriffs auf mich ziehen. Es musste einen Weg geben, ins Archiv zu gelangen, ohne Mr Owens in die Sache reinzuziehen. Mir fiel nur einer ein: Tess' Schlüssel.
Ich stöhnte leise, als mir klar wurde, was das bedeutete. Selbst wenn sie ihn nicht bei sich getragen hatte und der Schlüssel jetzt nicht mit ihr auf dem Weg ins Leichenschauhaus war, so lag er zumindest in ihrem Haus. Und das war von der Polizei umlagert. Aber irgendwann würde die Polizei wieder gehen. In ein paar Stunden wären sie fort. Dann war der Weg frei.
Ich nahm die Hände vom Mund und starrte dorthin, wo ich Nicholas vermutete. »Für das, was du getan hast, werde ich dich zur Hölle schicken!«, zischte ich in die Schatten. »Verlass dich darauf!«
Ein kühles Prickeln an meiner rechten Hand ließ mich zusammenfahren. Nein? Hatte er tatsächlich gerade Nein gesagt ? »Das werden wir noch sehen.« Wenn er glaubte, ich würde mich irgendwo hinsetzen und warten, bis er mich auch umbrachte, hatte er sich geirrt. Ich hatte jetzt nichts mehr zu verlieren.
Mit schnellen Schritten kehrte ich auf die Straße zurück. Inzwischen waren weitere Polizeifahrzeuge angekommen und die Menschenmenge war noch größer geworden. Keine Chance, unbemerkt ins Haus zu gelangen. Ich musste warten. Also ging ich zur Main Street zurück und setzte mich ins Diner. Es waren nicht viele Leute hier, doch zumindest war ich nicht allein. Wenn Nicholas vorhatte, mich umzubringen, würde er keine Zeugen wollen. Er würde warten,
bis wir allein waren. Den Gefallen wollte ich ihm nicht tun.
Ich verbrachte den restlichen Tag im Diner. Anfangs versuchte Rose immer wieder, mich in eine Unterhaltung zu verstricken. Erst als sie von einem anderen Gast hörte, was in der Hampton Road passiert war, ließ sie mich in Ruhe. Zum Glück war Mike nicht hier. Seine Reaktion zu sehen, wenn er von Tess' Tod erfuhr, hätte mir vermutlich den Rest gegeben.
Während der Stunden, die ich im Diner saß und aus dem Fenster starrte, bemühte ich mich, jeden Gedanken an Tess zu verdrängen. Ich lehnte Rose' Angebote ab, mir etwas zu essen zu bringen. Dafür trank ich Unmengen Kaffee. Das heiße Getränk half mir, die Kälte zu ignorieren, die mir ins Diner gefolgt war und immer wieder schneidend über meine Arme fuhr, als zerre Nicholas an mir.
Ein paarmal war ich versucht, Adrian anzurufen, um ihm zu erzählen, was passiert war. Vielleicht auch, um ihn zu bitten, auf
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