01 - Der Geist, der mich liebte
einem Scherbenregen zu Boden. Ich hielt den Atem an und lauschte. Alles war still. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Zitternd wandte ich mich der Tür zu. Scharfkantige Glassplitter ragten wie spitze Klingen aus dem Rahmen. Die Gefahr, mich daran zu verletzen, wenn ich mich vorbeizwängte, war groß. Sie aus dem Rahmen zu schlagen, wagte ich nicht. Bisher hatte ich riesiges Glück gehabt, dass mich niemand gehört hatte. Das wollte ich nicht weiter strapazieren, indem ich noch mehr Krach machte. Während ich noch auf die Tür starrte, sprang mir der einfachste und offenkundigste Weg nach drinnen förmlich ins Auge. Ich schob meine Hand - die mit der Jacke - um die Scherben herum und griff nach dem Riegel auf der Innenseite. Mit einem leisen Klicken schnappte das Schloss auf und ich konnte die Tür öffnen. Eine große Karriere als Einbrecher stand mir wahrlich nicht bevor. Abgesehen davon, dass meine Nerven das auf Dauer nicht mitmachen würden, stellte ich mich auch noch dämlich an.
Wie ein Schatten folgte mir die Kälte ins Wohnzimmer. Derselbe Raum, in dem ich mit Tess gesessen und ihr zum ersten Mal von Nicholas erzählt hatte. Alles hier erinnerte an sie. Die Kerzen, der leise Geruch von längst abgebrannten Räucherstäbchen, der noch immer in den Sitzkissen und Vorhängen hing. Die Braun- und Orangetöne der Einrichtung, die mir bei meinem ersten Besuch so warm und freundlich erschienen waren, wirkten jetzt schal und kalt. Tot. Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch, als würde Tess jeden Moment zurückkommen, um weiterzulesen. Geister und warum sie unter uns sind - Ein Ratgeber für rastlose Seelen.
Der Anblick des verlassenen Wohnzimmers und das Wissen, dass sie nie wieder zurückkommen würde, waren beinahe zu viel. Das Buch, der Tisch, die Sitzkissen, alles verschwamm vor meinen Augen. Die Kälte um mich herum wurde durchdringender. Nicholas war näher gekommen! Ich zog den Kragen meines T-Shirts so weit nach oben, bis der Stoff über Mund und Nase lag. Jetzt sollte er mal versuchen, meinen Atem zu bekommen!
Mit zitternden Fingern wischte ich mir die Tränen ab. Ich musste den Schlüssel finden und dann nichts wie raus hier!
Wo würde ich den Schlüssel für ein geheimes Archiv aufbewahren? Vorausgesetzt, sie hatte ihn nicht bei sich gehabt, als sie gestorben war. Ich ging zum Schrank und riss die erste Schublade auf. Räucherstäbchen, Zündhölzer und
Kerzen. In der nächsten fand ich Schmuck. Eine gewaltige Sammlung der riesigen Ohrringe, die Tess so gern getragen hatte. Die Schublade darunter quoll beinahe über mit Fotos. Gleich das oberste zeigte Tess und Mike. Sie im knallroten Abendkleid, er im Smoking. Vermutlich der Abschlussball oder ein anderes Schulfest. Mike strahlte und auch Tess wirkte nicht gerade unzufrieden. Das war jetzt vorbei. Ich warf die Lade zu und wandte mich ab. Da stand plötzlich Nicholas vor mir!
Erschrocken fuhr ich zurück und stieß mit dem Rücken gegen den Schrank. Er kam näher. Ich zog das T-Shirt weiter hoch und wich zur Seite aus.
»Sam, bleib hier!« Er versuchte nach mir zu greifen, doch er konnte mich nicht fassen. Eisig fuhren seine Hände durch mich hindurch. Ich rannte an ihm vorbei zum Schreibtisch und riss die nächste Schublade auf. Schreibsachen. Im Schrank daneben nur Nähzeug.
»Sam!« Hinter mir brüllte Nicholas auf mich ein. Ich verdrängte sein Geschrei aus meinem Kopf und konzentrierte mich voll auf meine eigenen Gedanken. Immer wieder versuchte er jedoch, mich zu fassen zu bekommen. Solange ich meinen Atem für mich behielt, konnte er mir nicht gefährlich werden. Es war allerdings nicht ganz leicht, das auch im Gedächtnis zu behalten. Mehr als einmal, wenn ich einen Blick in sein Gesicht erhaschte, wäre die Panik beinahe mit mir durchgegangen. Seine Miene war so finster und zornig, dass ich nur noch wegwollte.
Nicht ohne den Schlüssel!
Dann fiel es mir plötzlich ein. Tess hatte mir selbst gesagt, wo sie ihn aufbewahrte. Im Schlüsselkasten! Ich rannte auf den Flur hinaus, den Ort, an dem ich ihn am ehesten vermutete, und tatsächlich: Er hing gleich hinter der Tür an der Wand. Ein kleines blau lackiertes Kästchen. Mit zwei großen Schritten war ich dort. Ich riss ihn so heftig auf, dass er beinahe von der Wand gefallen wäre. Da war er! Der Schlüssel zum geheimen Archiv. Daneben hing der Schlüsselbund zur Bibliothek. Ich packte beide und steckte sie in meine Jeanstasche.
Da wurde mir bewusst, wie still es geworden war. Das
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