01 - Der Geist, der mich liebte
er über mich gesagt?«
»Dass du immer eifersüchtig auf ihn - also auf deinen Bruder - warst und deshalb versucht hast, ihn umzubringen. Dabei bist du aus dem Fenster gestürzt.«
Nicholas' Miene verfinsterte sich. »Etwas Ähnliches hat er im Haus zu dir gesagt. Warum erzählt er solche Lügen ? Was verspricht er sich davon?«
»Vielleicht fühlt er sich einfach besser, wenn er nicht als derjenige dasteht, der seinen Bruder ... Wer weiß schon, was in ihm vorgeht. Trotzdem, du hättest es mir sagen müssen! Das ist das fehlende Glied! Der Grund, warum du keinen Frieden finden kannst. Wieso hast du nicht selbst daran gedacht?«
»Ich kam gar nicht erst auf die Idee, dass es daran liegen könnte.«
»Was?« Ich konnte es nicht glauben. »Wie kannst du ... Warum...«
»Ich dachte, Adrian hätte der Hexerei abgeschworen. Eines Nachts, ein paar Wochen nach meinem Tod, kam er an mein Grab. Er hatte das Buch dabei. >Du wolltest immer, dass ich es vernichte<, sagte er. >Du sollst deinen Willen haben.« Adrian legte es in eine Blumenschale und verbrannte es zu Asche.« Nicholas schwieg einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe geglaubt, er hat es getan, weil er sich wegen ... wegen dem, was geschehen war, schlecht
fühlte. Wie hätte ich ahnen sollen, dass er längst ein anderes Buch hatte?«
Ich sprang auf. »Was?«
»Ich habe es gesehen. Letzte Nacht, als ich in seinem Haus war.«
Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass er mir zwar seine ganze Geschichte erzählt hatte, was jedoch vergangene Nacht geschehen war, wusste ich immer noch nicht. »Nicholas ...«
»Setz dich wieder hin, dann erzähle ich dir den Rest.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich sitzen wollte. Ob ich es konnte. Plötzlich fror ich, doch die Kälte hatte nichts mit Nicholas zu tun. Sie kam aus mir selbst, entstanden aus dem Grauen, das seine Erzählung in mir weckte. Horrorfilme waren Kinderkacke! Ich schlang die Arme um den Oberkörper und wartete, dass er weitersprach.
' »Sam.« Er tat einen Schritt auf mich zu. Gleich würde er mir den Arm um die Schultern legen und mich zum Tisch zurückführen. Doch er blieb stehen, gerade weit genug von mir entfernt, dass er mich nicht ohne Weiteres berühren konnte. Ich war mir nicht sicher, ob ich zugelassen hätte, dass er mich anfasste. Ein Teil von mir wünschte es Sich, doch es gab auch noch eine andere Seite. Eine, die noch immer vor der unsichtbaren Mauer zurückschreckte, die die Ereignisse der vergangenen Nacht zwischen uns errichtet hatten. Nicholas schien diese Mauer ebenso zu spüren wie ich. Solange er sie nicht niederriss, indem er auch meine letzten Zweifel ausräumte, konnte ich nicht zulassen, dass er mein Herz erneut erreichte.
Ich ging zum Tisch zurück, doch statt mich zu setzen, lehnte ich mich nur dagegen. Es schien ihm zu genügen. Endlich fuhr er fort: »Als ich Adrian gestern bei dir sah, war mir sofort klar, dass er mein Bruder ist. Ich habe es gespürt. Du wirst jetzt einwenden wollen, dass ich mich irren könnte und mich in so einer Sache nicht nur von meinen Gefühlen leiten lassen sollte. Vielleicht stimmt das auch. Doch meine Gefühle waren nicht alles. Sämtliche Tatsachen sprechen dafür, dass Adrian junior mein Bruder ist.« Er sah mich an. »Wie viele Familien kennst du, in denen sich die Familienmitglieder aufs Haar gleichen?« Ich wollte ihm gerade sagen, dass es einige gab, doch er ließ mich gar nicht zu Wort kommen. »Nicht einfach nur ähneln, Sam. Wirklich aufs Haar gleichen, als wären sie Zwillinge!«
Ich schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Aber so ist es mit meinem Bruder und seinem angeblichen Enkel. Sogar Muttermale und die kleine Narbe oberhalb der Stirn, die sich mein Bruder geholt hat, als er beim Spielen von einem Baum gefallen ist, sind an exakt denselben Stellen. Hältst du das für wahrscheinlich?«
Ich schluckte. »Nein.« Aber wenn Adrian junior und sein Großvater ein und dieselbe Person waren, wozu dieser Aufwand? Doch im selben Moment kannte ich die Antwort: Um kein Misstrauen bei den Leuten in Cedars Creek zu wecken, musste er normal altern. Gleichzeitig kam er als sein eigener Enkel in den Ort, um angeblich das Erbe seines Großvaters anzutreten. In Wahrheit bereitete er sich auf
sein eigenes Erbe vor. Nach allem, was ich in den letzten Minuten gehört hatte, hätte ich wetten können, dass noch niemand Adrian und seinen Großvater zusammen gesehen hatte.
»Adrian ist mein Bruder«, sagte
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