01 - Der Geist, der mich liebte
lebendigem Leib aus.«
Nicholas fuhr so plötzlich zu mir herum, dass ich erschrak. Ich begriff nicht gleich, dass es mein entsetztes Keuchen war, das ihn hatte herumfahren lassen. Er musterte mich besorgt. »Ich hätte das nicht erzählen sollen.«
»Nein!«, rief ich hastig. »Sprich weiter. Bitte.«
»Ich war zutiefst entsetzt und wusste nicht, was ich tun sollte. Allein sein Blick genügte mir, um zu wissen, dass er nicht mit sich reden lassen würde. Da lag ein Wahnsinn in seinen Augen, der ... Das war nicht mehr mein Bruder, sondern etwas, zu dem er im Laufe der Jahre geworden war.«
Ich erinnerte mich daran, wie Nicholas über seinen Bruder gesprochen hatte, als er mir von ihm erzählte. Damals in meinem Wohnzimmer. War das wirklich erst eine Woche her? Er hatte so zärtlich geklungen, als wäre Adrian noch immer der Bruder, den er über alles liebte. War es verwunderlich, dass er es vorzog, sich an den Adrian seiner Kindheit zu erinnern als an den jungen Mann, der in seinem Keller eine lebendige Katze ausweidete ?
»Als ich das Buch vor Adrian auf dem Boden sah, wusste ich, dass es der einzige Weg war. Wenn ich je eine Chance haben wollte, meinen Bruder zurückzubekommen, musste ich es vernichten.«
Das Ende der Geschichte war hinlänglich bekannt.
Trotzdem wollte ich wissen, wie es dazu gekommen war »Du hast es genommen?«
Er nickte. »Ich hätte nicht gedacht, dass Adrian so schnell sein könnte. Kaum hielt ich das Buch in Händen war er schon auf den Beinen. Seine Hände waren voller Blut als er versuchte, es mir zu entreißen. Ich war stärker. Mit dem Buch in der Hand rannte ich die Treppen hinauf in die Eingangshalle. Ich wollte aus dem Haus. Draußen konnte ich ihn abhängen, und sobald ich das geschafft hatte, wollte ich das Buch ein für alle Mal verbrennen. Adrian war dicht hinter mir. Oben holte er mich ein und schnitt mir den Weg zur Tür ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter nach oben zu laufen. Ich wollte mich in meinem Zimmer einsperren und, wenn es sein musste, über den Balkon nach unten klettern. Adrian holte mich auf der Galerie ein. Es kam zu einem Gerangel. Wir zogen und zerrten an dem Buch und dann ...« Nicholas biss sich auf die Lippe und schwieg.
Bei seinem Anblick schnürte es mir beinahe den Atem ab. Mein Herz hämmerte wie wild, als ich sagte: »Und dann bist du aus dem Fenster gestürzt«, vollendete ich seinen Satz leise.
»Es war kein Sturz«, sagte er. »Ich wollte es mir lange nicht eingestehen, doch die Wahrheit ist, dass er mich gestoßen hat. Als ich direkt vor dem Fenster stand, hat er aufgehört, am Buch zu zerren. Stattdessen verpasste er mir einen heftigen Tritt, der mich nach hinten schleuderte.«
»Er hat dich ermordet!« Ich krallte mich mit den Fingern an der Tischplatte fest, hätte ich das nicht getan, wäre ich wahrscheinlich einfach vom Tisch gefallen. Das alles
war so unglaublich! Ich wollte ihm sagen, dass es nicht sein konnte! Es gab keine Zauberformeln und auch keine Hexerei. Das war Blödsinn! War es das wirklich? Vor mir stand ein Geist! Jemand, der seit über fünfzig Jahren tot war. Und ich zweifelte an dem, was er über Adrian und das Hexenbuch erzählte ?
Nicholas sprach die Wahrheit. Alles passte zusammen. Adrian hatte ihn ermordet. Das war der Grund, warum Nicholas keine Ruhe fand. Nicht, solange sein Mörder nicht bestraft war!
»Warum hast du mir das nicht von Anfang an erzählt?«, fragte ich ruhig.
Nicholas lächelte freudlos. »Ist das nicht offensichtlich? Du hattest schon Schwierigkeiten, mit der Anwesenheit eines Geistes fertig zu werden. Was wäre passiert, wenn ich dir auch gleich noch von meinem Bruder dem Hexer erzählt hätte?«
Da hatte er nicht ganz Unrecht. Vermutlich wäre ich schreiend davongerannt. Oder ich hätte Nicholas für wahnsinnig gehalten und als gefährlich eingestuft. So wie ich es nach seinem in meinen Augen irrationalen Verhalten gestern Abend getan hatte. »Gleich am Anfang hätte mich eine derartige Geschichte sicher umgehauen«, räumte ich ein. »Warum hast du es mir nicht später erzählt? Ich hätte dir zugehört.«
»Zugehört. Vermutlich.« Er sah mir in die Augen. »Aber hättest du mir auch geglaubt?«
Ich schüttelte hilflos den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Das wusste ich wirklich nicht. Etwas anderes konnte ich jedoch
mit Gewissheit sagen: »Ganz bestimmt hätte ich dann anders auf Adrian reagiert. Und auf seine Geschichte über dich.«
Er hob eine Augenbraue. »Was genau hat
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