01 - Der Geist, der mich liebte
enden könnte. Je jünger ein Mensch ist, umso unverwundbarer fühlt er sich. Mit neunzehn hatte er einen Autounfall, der ihn fast das Leben kostete. Das war der Moment, in dem ihm seine eigene Sterblichkeit bewusst wurde. Er schwor damals im Krankenbett, dass ihm das niemals passieren würde. Niemals wolle er alt werden und sterben. Anfangs hielt ich es für das inbrünstige Versprechen eines jungen Mannes, der dem Tod gerade noch einmal entronnen war. Ich ahnte nicht, wie ernst es ihm damit war.«
Nicholas schlug plötzlich so heftig mit der Faust gegen die Wand, dass ich zusammenzuckte. Doch sein Ausbruch war nichts weiter als ein Ventil für die Hilflosigkeit und Trauer, die ich in seinen Augen fand.
»Kurz danach muss er mit seinen Experimenten begonnen haben. Natürlich bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Er hat sich oft stundenlang in einem der Kellerräume eingeschlossen. Unseren Eltern hat er erzählt, er richte sich dort ein Labor für den Biologieunterricht ein.
Er begann sich zu verändern. Er wurde kalt und skrupellos, erzählte den Leuten, was sie hören wollten, um zu bekommen, wonach ihm gerade der Sinn stand. Früher hatten
wir unsere Freizeit fast immer gemeinsam verbracht. Wir hatten alles geteilt, doch jetzt sonderte er sich ab, wurde immer mehr zum Einzelgänger und schloss mich aus seinem Leben aus. Damit hätte ich vielleicht noch umgehen können, doch auch sein Wesen wandelte sich. Er war nicht länger der freundliche, gutmütige Bruder, den ich kannte. Adrian wurde jähzornig und aufbrausend. Zugleich schaffte er es, unsere Eltern so zu umgarnen, dass sie nichts davon bemerkten. Er war der perfekte Schauspieler. Ich war überzeugt, das Ganze müsste etwas mit seinen Experimenten zu tun haben und mit der Besessenheit, die ihn immer wieder in sein Kellerlabor trieb. Ich habe versucht, es ihm auszureden, doch Adrian wollte nicht auf mich hören. Es sei harmlos, hat er jedes Mal behauptet, wenn ich ihn zur Rede stellte, und falls ich dann noch immer nicht lockerließ, wurde er aufbrausend.« Nicholas schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie lange er gebraucht hat, die Formel zu enträtseln. Die Seiten waren so vergilbt, dass man teilweise nur raten konnte.«
»Weißt du, woraus sie bestand?«
»Nein.« Er hatte aufgehört umherzulaufen und war mitten im Keller stehen geblieben. »Ein Teil bestand aus dem Wasser der Schwefelquelle, die sich auf der Rückseite des Hügels befindet.«
»Die Hexenquelle.« Das Wasser, dessen Geruch Prudence und Harmony den Ruf eingebracht hatte, sie seien Hexen. Nicht ganz zu Unrecht - auch wenn sich das erst sehr viel später herausgestellt hatte.
Nicholas sah mich an. »Du kennst die Geschichte?«
»Ich habe davon gehört.«
Es dauerte einen Moment, ehe er fortfuhr, als müsste er erst all seinen Mut zusammennehmen, um mir auch den Rest der Geschichte zu erzählen. »Ich habe nie herausgefunden, was genau die anderen Zutaten waren«, sagte er schließlich. »Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Ich wollte wissen, wie gefährlich es war, was er tat, doch nach jener Nacht, in der ich das Buch in seinem Zimmer fand, versteckte er es immer so gut, dass ich es nie wieder zu Gesicht bekam. Bis zum ... bis zu dem Tag, an dem ...«
»Der Tag, an dem du starbst?«, versuchte ich ihm zu helfen.
Er nickte. »Ich habe ihn bei einem Ritual erwischt.« Ich war mir nicht sicher, ob ich hören wollte, was jetzt kam. Doch Nicholas fuhr fort: »Er hatte vergessen, die Tür zu seinem Labor abzusperren. Unsere Eltern wären ohnehin nie hineingegangen, dafür hatte er ihnen zu deutlich gemacht, wie kostbar und wertvoll seine Versuchsanordnungen waren. Ich war auch schon lange nicht mehr unten gewesen. Als ich jedoch am Zugang zum Keller vorbeikam, hörte ich das Maunzen einer Katze. Wir hatten kein Haustier, also dachte ich an einen Streuner, der sich ins Haus verirrt hatte. Ich wollte ihn fangen und rauslassen. Die Geräusche führten mich zu Adrians Labor, und als ich die Tür öffnete, sah ich ihn.« Nicholas war anzusehen, wie schwer es ihm fiel fortzufahren. Ich wollte zu ihm gehen und nach seiner Hand greifen, doch ich blieb, wo ich war. Erst musste ich alles wissen. Ich wartete.
Er begann wieder im Keller umherzuwandern, diesmal
langsamer, nachdenklicher. »Adrian kniete in einem Kreidekreis, inmitten von Kerzen. Mit einer Hand drückte er die Katze zu Boden. In der anderen hielt er ein Messer mit großer gezackter Klinge. Er weidete das Tier bei
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