01 - Gnadenlos
»Seine Knarre ist noch da.«
»Jemand, den er gekannt hat?« wunderte sich Douglas.
»Jemand, den er ganz nah hat herankommen lassen, das ist mal verdammt sicher.«
»Eine Schrotflinte ist nicht so leicht zu verstecken. Zum Teufel, selbst mit abgesägtem Lauf ist sie noch sperrig. Keine Vorwarnung?« Ryan trat zurück, um den Leichenbeschauer an seine Arbeit zu lassen.
»Die Hände sind sauber, keine Anzeichen eines Kampfes. Wer das auch getan hat, ist echt nah rangekommen, ohne unseren Freund zu irritieren.« Douglas verstummte. »Verdammt noch mal, eine Schrotflinte macht doch Lärm. Hat niemand was gehört?«
»Todeszeitpunkt, sagen wir einstweilen mal, drei oder vier Uhr«, schätzte der Leichenbeschauer, denn wieder war noch keine Totenstarre eingetreten.
»Da ist auf den Straßen nichts los«, ergänzte Douglas.
»Aber eine Schrotflinte macht einen Höllenlärm.«
Ryan untersuchte die Hosentaschen. Wieder kein Bündel Geldscheine. Er blickte sich um. Etwa fünfzehn Personen standen hinter der Absperrung und starrten herüber. Das war ein gefundenes Fressen für Gaffer, und ihre Gesichter waren nicht weniger klinisch und unbeteiligt als das des Leichenbeschauers.
»Vielleicht das Duo?« fragte Ryan niemand bestimmten. »Nein, die nicht«, sagte der Leichenbeschauer sofort. »Das war eine einläufige Flinte. Eine doppelläufige hätte links oder rechts vom Einschußloch einen Abdruck hinterlassen, und das Pulver hätte sich anders verteilt. Eine Schrotflinte von so nah, da genügt eine Ladung. Jedenfalls eine einläufige Waffe.«
»Amen«, bekräftigte Douglas. »Da spielt sich einer als Gott auf. Drei Dealer in wenigen Tagen. Könnte Mark Charon seinen Job kosten, wenn das so weitergeht.«
»Tom«, sagte Ryan, »nicht heute.« Eine Akte mehr, dachteer. Wieder ein Drogendealer ausgeraubt, sehr sauber erledigt aber nicht der gleiche, der Ju-Ju auf dem Gewissen hat. Anderer Modus Operandi.
Wieder duschte Kelly, rasierte sich und joggte im Chinquapin-Park. Dabei konnte er nachdenken. Jetzt hatte er zu dem Wagen einen Ort und ein Gesicht. Das Unternehmen nahm Gestalt an, dachte er, während er rechts in die Belvedere Avenue einbog, um den Bach zu überqueren, bevor er auf der anderen Seite zurücklief und seine dritte Runde absolvierte. Es war ein angenehmer Park. Nicht besonders viele Spielgeräte, aber dafür hatten die Kinder viel Patz zum Herumrennen und konnten sich selbst was ausdenken, was einige von ihnen auch taten, zum Teil natürlich unter den wachsamen Augen von ein paar Müttern aus dem Viertel, von denen viele aber nebenher ein Buch lasen, während das Baby im Wagen schlummerte, das auch bald den Rasen und die Spielflächen genießen würde. Eine nicht vollzählige und spontan gebildete Mannschaft spielte Baseball. Der Ball sauste am Fanghandschuh eines Neunjährigen vorbei und landete vor Kellys Füßen. Kelly bückte sich, ohne im Laufen innezuhalten, und warf dem Kleinen den Ball zu, der ihn diesmal fing und Kelly ein Dankeschön hinterherrief. Ein jüngeres Kind spielte noch ungeschickt mit einem Frisbee und stolperte vor Kellys Füße, so daß er rasch ausweichen mußte, worauf die Mutter Kelly einen verlegenen Blick zuwarf, den er mit einem freundlichen Winken und einem Lächeln beantwortete.
So sollte es sein, sagte er sich. Nicht viel anders als seine Kindheit in Indianapolis. Papa ist bei der Arbeit, Mama paßt auf die Kinder auf, weil es schwer war, eine gute Mutter und gleichzeitig auch noch berufstätig zu sein, besonders, wenn sie noch so klein waren. Doch die Mütter, die arbeiten mußten oder sich für ihren Beruf entschieden hatten, konnten zumindest die Kleinen bei einer zuverlässigen Freundin lassen und sicher sein, daß ihr Nachwuchs wohlbehütet spielen und die Sommerferien im Freien und im Grünen genießen konnte, um Ballspielen zu lernen. Aber die Gesellschaft hatte sich mittlerweile mit der Tatsache abgefunden, daß es für viele nicht so war. Diese Gegend unterschied sich so sehr von seinem Operationsgebiet, und die Privilegien, die diese Kinder genossen, sollten gar keine Privilegien sein, denn wie konnte ein Kind ohne eine solche Umgebung zu einem guten Erwachsenen werden?
Das sind gefährliche Gedanken, sagte sich Kelly. Der logische Schluß lautete, die ganze Welt müßte verändert werden, aber das überstieg seine Möglichkeiten, dachte er gegen Ende seines 5000-Meter-Laufs, als sich das übliche angenehme verschwitzte und ausgelaugte
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