01 - Gnadenlos
Gefühl einstellte. Zum Abkühlen ging er noch ein paar Schritte in langsamem Tempo, bevor er sich in seinen Wagen setzte und davonfuhr. In ihm hallten Kinderlachen, Kreischen, erboste »Mogler«-Rufe nach, wenn einer eine Spielregel verletzt hatte, die keiner der Beteiligten schon voll begriff, oder wenn es Meinungsverschiedenheiten darüber gab, wer im Spiel draußen oder »dran« war. Dann verdrängte er die Geräusche und die damit verbundenen Gedanken denn er war ja selber auch ein »Mogler«, oder etwa nicht? Er verletzte die Regeln, wichtige Regeln, die er durchaus begriffen hatte, aber er tat es um der Gerechtigkeit willen oder für das, was in seinem Denken Gerechtigkeit hieß.
Rache? fragte sich Kelly beim Überqueren einer Kreuzung. Der Begriff Vigilant kam ihm als nächstes in den Sinn. Das war ein besseres Wort, dachte Kelly. Es kam von vigiles, einer lateinischen Bezeichnung für diejenigen, die während der Nacht in den Straßen der Stadt Wache, vigilia, hielten, hauptsächlich, um Feuer zu verhüten, wenn er sich korrekt an seinen Lateinunterricht an der St.-Ignatius-Schule erinnerte. Da es sich um Römer handelte, hatten sie womöglich auch Schwerter getragen. Er fragte sich, ob die Straßen Roms sicher gewesen waren, sicherer als die Straßen dieser Stadt. Vielleicht schon - wahrscheinlich sogar. Die römische Justiz war streng gewesen. Die Kreuzigung war sicher keine angenehme Todesart gewesen, und für manche Verbrechen wie etwa Vatermord sah das Strafrecht vor, den Delinquenten zusammen mit einem Hund und einem Huhn oder einem anderen Tier in einen Sack zu sperren und dann in den Tiber zu werfen - nicht damit er ertrank, sondern damit er beim Ertrinken von Tieren zerfleischt wurde, die wie von Sinnen aus dem Sack zu entkommen suchten. Wahrscheinlich war er ein direkter Nachfahre aus dieser Zeit, von einem vigile sagte sich Kelly, der nachts Wache hielt. Das gab ihm irgendwie ein besseres Gefühl, als wenn er sich sagen mußte, daß er Gesetze übertrat. Er war seine eigene Bürgerwehr. Und die »Vigilanten« in den amerikanischen Geschichtsbüchern unterschieden sich sehr von denen, wie sie in der Presse porträtiert wurden. Vor der Einrichtung offizieller Polizeidienststellen hatten einfache Bürger Streifendienst getan und mehr schlecht als recht für Ordnung gesorgt. War er so wie sie?
Na ja, nicht direkt, gestand Kelly sich ein, als er den Käfer einparkte. Und wenn es doch Rache war? Na und? Zehn Minuten später wanderte wieder ein Müllsack mit einem weiteren Satz abgelegter Kleidungsstücke in die Mülltonne, und Kelly duschte noch einmal, bevor er einen Anruf erledigte.
»Schwesternstation, O'Toole.«
»Sandy? John. Machen Sie immer noch um drei Schluß?«
»Sie treffen wirklich immer den richtigen Augenblick«, sagte sie an ihrem Stehpult und gestattete sich ein privates Lächeln. »Der verdammte Wagen ist wieder kaputt. Und Taxis kosten zuviel.«
»Soll ich ihn mir mal ansehen?« fragte Kelly.
»Ich wünschte, jemand könnte ihn reparieren.«
»Ich will nichts versprechen«, hörte sie ihn sagen, »aber ich bin billig.«
»Wie billig?« fragte Sandy, wußte aber die Antwort schon im voraus.
»Erlauben Sie mir, Sie zum Essen einzuladen? Sie dürfen sogar das Lokal auswählen.«
»Ja, einverstanden... aber... «
»Aber es ist für uns beide noch zu früh. Ja, gnädige Frau, ich weiß. Ihre Unbescholtenheit ist nicht in Gefahr - ehrlich.«
Sie mußte lachen. Ein derart zurückhaltendes Wesen paßte einfach nicht zu so einem imposanten Mann. Doch sie wußte, daß sie ihm vertrauen konnte, hatte es auch satt, immer nur für sich selbst zu kochen und immer wieder allein und allein und allein zu sein. Ob es nun zu früh war oder nicht, sie brauchte einfach mal Gesellschaft.
»Viertel nach drei am Haupteingang«, sagte sie ihm. »Ich werde sogar mein Patientenarmband tragen.«
»Okay.« Ein weiteres Lachen überraschte eine andere Schwester, die gerade mit einem Tablett voller Medikamente vorbeikam. »Also gut, ich habe doch zugesagt, oder etwa nicht?«
»Jawohl, Madam. Also bis dann«, sagte Kelly mit einem Auflachen und hängte ein.
Ein wenig menschlicher Kontakt wäre fein, sagte er sich, als er zur Tür hinausging. Zunächst suchte er einen Schuhladen auf, wo er ein schwarzes Paar Größe 44 erstand. Dann fand er vier weitere Schuhläden, wo er das gleiche tat, er versuchte, nicht jedesmal dieselbe Marke zu erwischen, aber schließlich hatte er doch zwei
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