01 - Gnadenlos
weißen Strich auf der Oberseite des Schalldämpfers. Dann streckte er, ohne die Ellenbogen anzuwinkeln, die Arme nach vorn. Schnell und fließend richtete sich die Mündung der Automatik auf sein erstes Ziel. Das menschliche Auge reagiert auf Bewegung, besonders nachts. Big Bob bemerkte eine Veränderung, witterte, daß etwas im Anzug war, wußte aber nicht, was. Seine auf den Straßen geschärften Sinne zogen die richtigen Schlußfolgerungen, und er schrie auf. Zu spät. Pistole, dachte er, ließ die Hand zur eigenen Waffe gleiten, anstatt auszuweichen, was seinen Tod vielleicht hinausgezögert hätte.
Kelly zog den Abzug zweimal durch; zuerst, als der Schalldämpfer voll auf das Opfer gerichtet war, und dann, direkt nachdem sein Handgelenk den leichten Rückschlag der .22er aufgefangen hatte. Ohne die Fußstellung zu verändern, wandte er sich mit einer mechanischen Drehung nach rechts, wodurch die Pistole in einer exakten horizontalen Linie auf Little Bob zeigte. Dieser hatte bereits reagiert, nachdem er seinen Boß zu Boden sinken sah, seine Hand lag auf der Waffe an seiner Hüfte. Doch er war nicht schnell genug. Kellys erster Schuß war schlecht, er traf zu tief und richtete nur wenig Schaden an. Doch der zweite schlug in die Stirn ein, wurde von den dickeren Partien der Schädeldecke abgelenkt und raste im Inneren des Schädels umher wie ein Hamster in seinem Käfig. Little Bob fiel aufs Gesicht. Kelly blieb nur so lange dort, bis er wußte, daß beide tot waren. Dann wandte er sich ab und ging weiter.
Sechs, dachte er auf dem Weg zur Ecke. Nach dem plötzlichen Adrenalinstoß beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Kelly steckte die Pistole an ihren Platz neben dem Messer. Um zwei Uhr sechsundfünfzig trat er den Rückzug an.
Nicht gerade ein guter Anfang, dachte der Marinesoldat von der Aufklärungstruppe. Der gemietete Bus hatte unterwegs eine Panne gehabt, und die »Abkürzung«, durch die der Fahrer die verlorene Zeit wieder einholen wollte, endete an einem Sperrschild. Erst kurz nach drei traf der Bus im Marinestützpunkt Quantico ein. Ein Jeep führte ihn zu seinem Bestimmungsort. Dort fanden die Marines ein alleinstehendes Kasernengebäude, das bereits zur Hälfte von schnarchenden Männern belegt war. Kurzerhand nahmen sie ihrerseits Pritschen in Beschlag, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Mochte ihre Mission auch noch so interessant, aufregend und gefährlich sein, zu Anfang mußten sie erst einmal den beim Kommiß üblichen Drill über sich ergehen lassen.
Auch für eine gewisse Virginia Charles nahm der Tag keinen besonders zufriedenstellenden Ausklang. Die Schwesternhelferin im St-Agnes-Krankenhaus, nur wenige Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, mußte Überstunden machen, da ihre Ablösung sich verspätet hatte und sie ihren Teil der Station nicht ohne Aufsicht lassen wollte. Selbst nach acht Jahren Spätschicht in diesem Krankenhaus wußte sie immer noch nicht, daß die Busse kurz nach ihrem normalen Dienstschluß nur noch in größeren Abständen fuhren, und nachdem ihr einer vor der Nase weggefahren war, mußte sie schier eine Ewigkeit auf den nächsten warten. Erst zwei Stunden nach ihrer üblichen Schlafenszeit stieg sie aus und ärgerte sich, daß sie die »Tonight Show« verpaßt hatte, die sie an Werktagen mit fanatischer Regelmäßigkeit verfolgte. Die Vierzigjährige war geschieden von einem Mann, der ihr außer zwei Söhnen - der eine war Soldat, zum Glück in Deutschland und nicht in Vietnam, und der andere noch in der High-School - nur wenig hinterlassen hatte. Trotz ihrer nicht gerade gehobenen Position kam sie mit ihren beiden Söhnen gut über die Runden, obwohl deren Umgang und ihre Zukunftsaussichten ihr wie allen Müttern ständigen Kummer bereiteten.
Als sie müde aus dem Bus stieg, fragte sie sich zum soundsovieltenmal, warum sie sich von den Ersparnissen der letzten Jahre kein Auto gekauft hatte. Doch ein Auto mußte versichert werden, und durch ihren halbwüchsigen Sohn zu Hause würden nicht nur die Benzinrechnungen steigen, sondern auch ihre Sorgen. Vielleicht in ein paar Jahren, wenn der zweite ebenfalls in die Armee eingetreten war, seine einzige Aussicht auf eine Hochschulbildung, die sie ihm zwar wünschte, aber allein nie finanzieren konnte.
Mit wachsamen Blicken eilte sie auf ihre Wohnung zu, obwohl ihre müden Beine steif und verkrampft waren. Wie die Gegend sich verändert hatte! Sie wohnte von Kindheit an in diesem Viertel und erinnerte
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