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01 - Gnadenlos

01 - Gnadenlos

Titel: 01 - Gnadenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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erneuten Adrenalinausstoß begann sein Hirn, fieberhaft zu arbeiten. Wenn hier ein Verbrechen geschah, würde die Polizei kommen und vielleicht stundenlang dableiben. Und er hatte ein paar hundert Meter entfernt - in Luftlinie vielleicht sogar noch weniger - zwei Leichen zurückgelassen! Das war eine brenzlige Situation, und viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht. Der Junge, der ihm den Rücken zudrehte, hielt die Frau am Arm gepackt und bedrohte sie mit einem Messer. Für Kelly wäre es ein Kinderspiel gewesen, ein Ziel auf sechs Meter Entfernung zu treffen, sogar im Dunkeln. Doch nicht mit einer .22er, die womöglich durchschlug und die unschuldige, harmlose Frau dahinter verletzte. Sie trug eine Art Uniform und war vielleicht vierzig, erkannte Kelly, als er sich in Bewegung setzte. Dann veränderte sich die Situation erneut. Der Junge stach mit dem Messer auf sie ein, traf den Oberarm. Das hervorschießende Blut schimmerte rot im Schein der Straßenlaterne.
    Virginia Charles rang nach Luft, als er zustieß, und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. Die Fünf-Dollar-Note fiel zu Boden. Der Junge legte ihr die freie Hand um die Kehle, um sie besser festhalten zu können, und sie erkannte in seinem Blick, daß er überlegte, wo er jetzt zustechen sollte. Plötzlich entdeckte sie in etwa fünf Metern Entfernung einen Mann, und in ihrem Schmerz und ihrer Angst rief sie um Hilfe. Sie brachte nur einen verstümmelten Laut zustande, doch er genügte, um den Straßenräuber zu alarmieren. Er merkte, daß sie etwas entdeckt hatte - aber was?
    Als der Junge sich umblickte, sah er drei Meter hinter sich einen Penner. Sein eben noch so wachsamer Ausdruck verwandelte sich in ein schmutziges Grinsen.
    Scheiße! Das lief gar nicht nach Plan. Mit gesenktem Kopf sah Kelly zu dem Jungen hinüber. Er wußte, daß er die Situation noch nicht unter Kontrolle hatte.
    »Na, Alter, du kannst deine Knete gleich dazulegen«, sagte der Junge im Bewußtsein seiner Überlegenheit. Unverzüglich trat er einen Schritt auf den Mann zu, der einfach mehr Geld haben mußte als diese alte Schachtel.
    Das hatte Kelly nicht erwartet; es brachte seinen Zeitplan durcheinander. Er griff nach seiner Pistole, doch der Schalldämpfer verfing sich im Gürtel, und der Straßenräuber interpretierte die Bewegung im Näherkommen instinktiv als den bedrohlichen Akt, der sie war. Mit gezücktem Messer trat er einen Schritt vor. Kelly hatte keine Zeit mehr, die Automatik zu ziehen. So hielt er an, wich etwas zurück und richtete sich auf.
    Trotz seiner Aggressivität war der Straßenräuber kein guter Kämpfer. Sein erster Vorstoß mit dem Messer war unbeholfen, und er war verblüfft, mit welcher Leichtigkeit der Penner ihn abwehrte. Eine kraftvolle gerade Rechte auf den Solar Plexus ließ ihn nach Luft schnappen, setzte ihn jedoch noch nicht völlig außer Gefecht. Während er sich auf die Füße rappelte, schwang er wütend sein Messer. Kelly griff nach seinem Arm, drehte ihn mit einer Zugbewegung um und stellte sich dann über den Jugendlichen, der schon auf das Pflaster sank. Ein Knacken verriet ihm, daß er dem Jungen die Schulter ausgerenkt hatte. Kelly drehte den Arm weiter nach hinten, um ihn vollends nutzlos zu machen.
    »Gehen Sie nach Hause, Madam«, sagte er mit abgewandtem Kopf zu Virginia Charles. Er hoffte, daß sie ihn bisher noch nicht genau gesehen hatte. Eigentlich hatte sie dazu keine Gelegenheit gehabt, sagte sich Kelly, denn er hatte sich blitzschnell bewegt.
    Die Schwesternhelferin bückte sich und nahm die FünfDollar-Note vom Bürgersteig auf. Dann ging sie, ohne ein Wort zu sagen, davon. Kelly sah, daß sie mit der rechten Hand die blutende Wunde am linken Oberarm umklammert hielt. Ihre Schritte waren unbeholfen, wahrscheinlich wegen des Schocks. Er war froh, daß sie keine Hilfe brauchte. Mit Sicherheit würde sie jemanden rufen, womöglich einen Krankenwagen. Eigentlich hätte er sich ja um ihre Verletzung kümmern müssen, doch das Risiko, das er dabei einging, wog schwerer als das, was er hätte ausrichten können. Der Möchtegern-Straßenräuber begann zu stöhnen, als der Schmerz von seiner ausgerenkten Schulter den schützenden Nebel seiner Rauschmittel durchdrang. Und dieser Junge hatte Kellys Gesicht mit Sicherheit gesehen, ganz aus der Nähe.
    Scheiße, fluchte Kelly in Gedanken. Nun, er hatte eine Frau verletzt und Kelly mit dem Messer angegriffen, also konnte man ihm, wenn man es genau nahm, zwei Mordversuche anlasten.

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