01 - Gnadenlos
an.
»In Ordnung. Ich habe sowieso noch eine Übergabe abzuwickeln«, erinnerte ihn Billy.
»Ach ja.« Das hatte Tucker im Eifer des Gefechts ganz vergessen. Tucker war auch nur ein Mensch.
»Little Man hatte gestern abend tausend zuwenig dabei. Ich habe es mal durchgehen lassen, war bei ihm ja schließlich das erste Mal. Er sagte, er hätte beim Zählen Mist gebaut, und schlägt vor, daß er zum Ausgleich fünfhundert drauflegt«
Tucker nickte. Es war wirklich das erste Mal, daß Little Man einen derartigen Fehler machte. Bis jetzt hatte er immer den angemessenen Respekt bewiesen und auf seinem Stück Bürgersteig ein hübsches Geschäft gemacht. »Aber schärf ihm ein, daß mit einem Fehler in unserer Firma die Grenze erreicht ist.«
»Jawohl, Sir.« Billy nickte lebhaft und bewies damit seinerseits den angemessenen Respekt.
»Und paß auf, daß sich die Geschichte nicht rumspricht.«
Das war das echte Problem, oder eigentlich sogar mehrere, dachte Tucker. Die Straßendealer waren Kleinkrämer, raffgierig bis an die Grenze zur Dummheit unfähig zu verstehen, daß ihnen eine geordnete Abwicklung der Geschäfte ein stabiles Einkommen sicherte und Stabilität im Interesse aller Beteiligten lag. Aber Straßendealer blieben nun mal Straßendealer - das konnte er nicht ändern. Oft genug kamen sie bei einem Raubüberfall oder bei Revierkämpfen ums Leben. Einige waren sogar so dämlich, ihren eigenen Stoff zu konsumieren - Henry achtete peinlich darauf, diesen Typen aus dem Weg zu gehen, im großen und ganzen mit Erfolg. Hin und wieder versuchte einer, die Grenze zu überschreiten, und behauptete, er sei knapp an Bargeld, um ein paar Hunderter herauszuschlagen, wo doch das Straßengeschäft ein Vielfaches davon abwarf. In solchen Fällen gab es nur eine einzige Medizin, und Henry hatte das Gesetz mit so viel Konsequenz und Brutalität angewandt, daß es lange Zeit nicht mehr nötig gewesen war, ein Exempel zu statuieren. Möglicherweise hatte Little Man die Wahrheit gesagt. Angesichts der großen Summe, die er als Strafe entrichten wollte, sah es ganz danach aus; sie war auch ein Hinweis dafür, daß er den regelmäßigen und immer noch anwachsenden Nachschub und die damit verbundenen Gewinne schätzen gelernt hatte. Dennoch würde man ihn in den kommenden Monaten gut im Auge behalten müssen.
Am meisten ärgerte Tucker, daß er sich mit solchen Banalitäten wie dem Abrechnungsfehler von Little Man herumschlagen mußte. Er wußte, er würde da herauswachsen, denn das war der natürliche Übergangsprozeß vom Lokalmatador zum Großverteiler. Er mußte lernen, Aufgaben zu delegieren, und jemandem - wie Billy beispielsweise - eine größere Verantwortung übertragen. Konnte Billy damit umgehen? Eine gute Frage, dachte Henry beim Verlassen des Hauses. Noch immer in Gedanken bei seinem Problem, gab er dem Jungen, der auf sein Auto aufgepaßt hatte, einen Zehner. Bei den Mädchen hatte Billy vorzügliche Arbeit geleistet denn sie spurten wie eine Eins. Ein kluger, nicht vorbestrafter weißer Junge aus der Kohlenregion von Kentucky. Ehrgeizig und mit Teamgeist. Eigentlich hatte er sich eine Beförderung verdient.
Endlich, dachte Kelly. Nachdem er sich schon eine Stunde lang gefragt hatte, ob der Roadrunner womöglich nie auftauchen würde, fuhr der Wagen Viertel nach zwei endlich vor. Kelly zog sich weiter in den Schatten zurück, ein wenig höher aufgerichtet als zuvor, und wandte den Kopf, um den Mann genauer zu betrachten. Billy und sein Kompagnon lachten laut über einen Witz. Der andere stolperte auf den Stufen, hatte wohl einen Drink zuviel intus. Wichtiger war jedoch, daß bei seinem Fall lauter kleine Rechtecke zu Boden flatterten, die verdammt nach Geldscheinen aussahen.
Zählen sie hier etwa ihr Geld? fragte sich Kelly. Das ist ja interessant. Beide Männer bückten sich, um das Geld aufzusammeln, und Billy schlug dem anderen spielerisch auf die Schulter. Er machte eine Bemerkung, die Kelly aus fünfzig Meter Entfernung nicht verstand.
Zu dieser nachtschlafenden Zeit kamen die Busse nur alle fünfundvierzig Minuten vorbei, außerdem führte sie ihre Route durch eine Straße, die mehrere Blocks weiter unten lag. Das Auftauchen der Polizeistreife konnte man in etwa vorhersagen, so wie eben das ganze Viertel recht überschaubar war. Gegen acht versiegte der normale Verkehr, und um halb zehn waren fast alle Anwohner von den Straßen verschwunden. Sie verbarrikadierten sich hinter Türen mit dreifacher
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