01 - Gnadenlos
sich noch gut an die Zeiten, als die Straßen voller Leben und sicher und die Nachbarn freundlich gewesen waren. Damals konnte sie mittwochs, wenn sie einen ihrer seltenen freien Abende hatte, zur nahegelegenen Methodistenkirche gehen, ohne Angst haben zu müssen. Wegen ihrer Arbeit hatte sie den Gottesdienst auch diese Woche wieder verpaßt. Doch sie tröstete sich mit dem Gedanken an die zwei bezahlten Überstunden und hielt sorgfältig nach möglichen Gefahren Ausschau. Nur noch drei Straßenecken weiter, sagte sie sich. Sie schritt rascher aus, rauchte eine Zigarette, um munter zu bleiben, und mahnte sich innerlich zur Ruhe. Im vergangenen Jahr war sie zweimal Straßenräubern in die Hände gefallen, beide Male Drogenabhängigen, die sich so das Geld für ihre wie auch immer gearteten Süchte beschafften. Immerhin hatte sie diese Erfahrungen als praktischen Anschauungsunterricht für ihre Söhne verwenden können. Außerdem hatte sich der finanzielle Verlust in Grenzen gehalten. Virginia Charles trug nie mehr bei sich als ein bißchen Kleingeld für den Bus und ihr Abendessen in der Kantine des Krankenhauses. Zwar schmerzte sie die Verletzung ihrer Würde, doch viel mehr litt sie unter dem Vergleich zu den besseren Zeiten, als die Gegend größtenteils noch von gesetzestreuen Bürgern bewohnt war. Jetzt nur noch bis zur nächsten Querstraße, sagte sie sich, als sie um die Ecke bog.
»He, Muttchen, haste mal 'nen Dollar für mich?« fragte eine Stimme hinter ihr. Sie hatte den Schatten gesehen, war ihm, ohne den Kopf zu wenden und ohne einen Blick in seine Richtung, ausgewichen und hatte ihn ignoriert in der Hoffnung, daß ihr die gleiche Höflichkeit zuteil werden würde. Doch diese Art von Höflichkeit war selten heutzutage. Mit gesenktem Kopf zwang sie sich zum Weitergehen und hielt sich vor Augen, daß wohl nicht viele Straßenräuber die Gemeinheit besaßen, eine Frau von hinten anzugreifen. Doch die Hand auf ihrer Schulter strafte diese Annahme Lügen.
»Ich will Geld sehen, Alte« sagte die Stimme, nicht einmal wütend, sondern in einem sachlichen Befehlston, der die neuen Spielregeln auf der Straße kennzeichnete.
»Das bißchen, was ich habe, bringt dich auch nicht weiter, Junge«, sagte Virginia Charles. Sie wand sich aus seinem Griff, so daß sie, ohne sich umzublicken, weitergehen konnte, denn in der Bewegung lag Sicherheit. Da hörte sie ein Klicken.
»Soll ich dich vielleicht abstechen?« fragte die Stimme seelenruhig. Dieser alten Schachtel mußte man anscheinend erst mal zeigen, wo's langging.
Das Geräusch machte ihr Angst. Sie hielt an, flüsterte ein stummes Gebet und öffnete ihre kleine Geldbörse, Dann wandte sie sich langsam um, noch immer eher ärgerlich als ängstlich. Sie hätte schreien können, und noch wenige Jahre zuvor hätte sie damit wohl auch was erreicht. Männer hätten sie gehört und zu ihr herübergeschaut, einige wären vielleicht herbeigelaufen und hätten den Angreifer in die Flucht geschlagen. Jetzt sah sie ihn vor sich, diesen Jungen von siebzehn oder achtzehn. Neben der arroganten Unmenschlichkeit der Macht zeigten seine Augen in den Pupillen eine starre Erweiterung, die typische Folge des Drogenkonsums. Nun gut, dachte sie, dann kaufe ich mich eben frei und gehe dann nach Hause. Sie holte ihre Fünf-Dollar-Note aus der Börse.
»Ganze fünf Dollar?« Der Junge grinste. »Das reicht nicht, Alte. Rück es raus, oder es ist aus mit dir.«
Der Ausdruck in seinen Augen machte ihr angst, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. »Mehr habe ich nicht«, beteuerte sie.
»Mehr, oder ich stech dich ab.«
Nur einen halben Block entfernt bog Kelly in die Straße ein, wo sein Auto stand. Gerade war er so weit, daß er aufatmen konnte. Vor der Ecke hatte er nichts gehört, doch nun sah er keine sechs Meter von seinem verrosteten Volkswagen entfernt zwei Personen stehen, und ein kurzes, helles Aufblitzen verriet ihm, daß eine davon ein Messer in der Hand hielt.
Sein erster Gedanke war: So ein Mist! Bei seinen Vorbereitungen hatte er sich überlegt, wie er sich bei einem derartigen Vorfall verhalten würde. Er konnte nicht die ganze Welt retten und wollte es auch gar nicht erst versuchen. Einen Straßenraub zu verhindern, machte sich sicher gut im Fernsehen, aber bei ihm ging es um etwas Größeres. Nur hatte er in seine Überlegungen nicht einbezogen, daß sich so etwas in der Nähe seines Autos ereignen könnte.
Er blieb stehen und blickte sich um. Angeregt von dem
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