01 - Gnadenlos
verloren«, antwortete Hicks mit der Kaltschnäuzigkeit der Jugend.
»Eine derartige Gleichgültigkeit kann ganz sinnvoll sein. Aber zwischen Ihnen und mir besteht doch ein großer Unterschied: Ich war dort, Sie nicht. Sie haben nie Uniform getragen, Wally, und das ist eine Schande. Sie hätten was dabei lernen können.«
Dieses Argument verblüffte Hicks. »Ich wüßte nicht, was das sein sollte, Sir. Dann hätte ich ja mein Studium unterbrechen müssen.«
»Das Leben ist kein Buch, mein Sohn.« MacKenzie hatte diese Wendung benutzt, um sein Wohlwollen auszudrücken, doch für seinen Sekretär klang sie wie eine Bevormundung. »Im wahren Leben fließt Blut. Die Menschen haben Gefühle und Träume, und sie haben eine Familie. Sie leben ein wahres Leben. Sie hätten beispielsweise lernen können, daß sie Menschen bleiben, auch wenn sie anders sind. Als Mitglied der Regierung dieses Volkes sollten Sie das im Kopf behalten.«
»Jawohl, Sir.« Was sonst sollte er dazu sagen? Dieses Streitgespräch konnte er nicht gewinnen. Verdammt, er brauchte jemanden, mit dem er darüber reden konnte.
»John!« Kein Lebenszeichen in zwei Wochen. Sie hatte schon befürchtet, daß ihm etwas zugestoßen war. Doch nun mußte sie sich an den entgegengesetzten Gedanken gewöhnen - daß er lebte und womöglich etwas getan hatte, wovon sie eigentlich nichts Genaueres wissen wollte.
»Hallo, Sandy!« Ordentlich angezogen, mit Schlips und blauem Sakko, stand Kelly lächelnd vor ihr. Es war so offensichtlich eine Verkleidung, wenn auch eine völlig andere als beim letztenmal, daß sie sich von seinem Auftauchen zutiefst irritiert fühlte.
»Wo sind Sie gewesen?« fragte Sandy, während sie ihn hereinwinkte, damit die Nachbarn ihn nicht sahen.
»Hatte was zu erledigen«, erwiderte Kelly ausweichend. »Was?« Die Direktheit ihrer Frage erforderte eine konkrete Antwort.
»Nichts Illegales. Ehrenwort«, war alles, was er sagen konnte.
»Stimmt das auch wirklich?« Plötzlich hatte sich zwischen ihnen eine mißtrauische Spannung ausgebreitet. Kelly blieb direkt hinter der Türschwelle stehen. Hin- und hergerissen zwischen Wut und Schuldgefühlen, fragte er sich, warum er hierhergekommen war, warum er Admiral Maxwell um diesen großen Gefallen gebeten hatte. Eine Antwort wußte er bis jetzt noch nicht.
»John!« rief Sarah aus dem ersten Stock und rettete die beiden aus ihrem Schweigen.
»Hallo, Frau Doktor«, antwortete Kelly. Beide waren froh über die Ablenkung.
»Wir haben eine Überraschung für Sie!«
»Was denn?«
Sarah Rosen, die jetzt die Treppe herunterkam, sah trotz ihres Lächelns so unelegant aus wie immer. »Du siehst verändert aus.«
»Ich habe regelmäßig trainiert«, erklärte Kelly.
»Und was bringt dich hierher?«
»Ich muß fort und wollte noch mal vorbeikommen, ehe ich aufbreche.«
»Wo mußt du hin?«
»Das kann ich nicht sagen.« Sofort wurde die Stimmung im Raum deutlich kühler.
»John«, sagte Sandy. »Wir wissen Bescheid.«
»Gut.« Kelly nickte. »Das habe ich mir schon gedacht. Wie geht es Doris?«
»Ihr geht es gut. Das verdankt sie dir«, antwortete Sarah.
»John, wir müssen miteinander reden«, sagte Sandy. Dr. Rosen verstand den Hinweis und ging wieder nach oben, während die Krankenschwester und ihr früherer Patient sich in die Küche zurückzogen,
»John, was haben Sie getan?«
»Zuletzt? Das darf ich nicht sagen. So leid es mir tut, aber das darf ich nicht.«
»Ich meine - ich meine das Ganze. Was haben Sie vor?« »Besser für Sie, wenn Sie es nicht wissen, Sandy.«
»Was ist mit Billy und Rick?« Schwester O'Toole brachte die Sache auf den Punkt.
Kelly wies mit dem Kopf auf das obere Stockwerk. »Sie haben doch selbst gesehen, was die Doris angetan haben. Dazu haben sie nun keine Gelegenheit mehr.«
»John, Sie dürfen das nicht tun. Die Polizei -«
»- hängt mit drin«, erklärte ihr Kelly. »Die Organisation hat sich jemanden dort gekauft, möglicherweise ein hohes Tier. Deshalb darf ich der Polizei nicht trauen, und Sie auch nicht Sandy«, schloß Kelly so sachlich wie möglich.
»Aber es gibt doch auch andere, John. Andere, denen -« Erst jetzt verstand sie, was er gesagt hatte. »Woher wissen Sie das?«
»Billy hat mir ein paar Fragen beantwortet.« Kelly schwieg. Ihr Gesichtsausdruck steigerte seine Schuldgefühle. »Sandy, Sie glauben doch nicht im Ernst, irgend jemand würde sich ein Bein ausreißen, um den Tod einer Prostituierten aufzuklären? So schätzt die
Weitere Kostenlose Bücher