01 - Gnadenlos
nicht mehr zurückkommen würden, wenn wir nichts unternehmen. Ich mache dabei mit.«
»Aber warum müssen ausgerechnet Sie da hin?«
»Warum ich? Irgend jemand muß es ja tun, und mich hat man eben gefragt. Warum tun Sie Ihre Arbeit, Sandy? Wissen Sie noch, das habe ich Sie schon einmal gefragt.«
»Verdammt, John. Sie sind mir nicht mehr gleichgültig!« platzte sie heraus.
Ein weiteres Mal zeigte sich in seinem Gesicht der alte Schmerz. »Das dürfen Sie nicht. Es könnte Ihnen wieder großen Kummer bereiten, und das möchte ich nicht.« Damit hatte er genau das Verkehrte gesagt. »Leute, denen ich etwas bedeute, Sandy, müssen mit seelischen Enttäuschungen rechnen.«
In diesem Augenblick traten Sarah und Doris ein und retteten die beiden vor sich selbst. Das Mädchen wirkte wie ausgewechselt. Ihre Augen waren voller Leben. Sandy hatte ihr die Haare gelegt und ihr etwas zum Anziehen herausgesucht. Doris war immer noch schwach, aber sie konnte sich schon ohne Hilfe fortbewegen. Ihre sanften braunen Augen richteten sich auf Kelly.
»Sie waren das«, sagte sie ruhig.
»Ich schätze, ja. Wie geht es Ihnen?«
Sie lächelte. »Ich fahre bald nach Hause. Daddy - Daddy will, daß ich zurückkomme.«
»Das kann ich mir vorstellen, Madam«, sagte Kelly, Sie ähnelte in nichts mehr dem Opfer, das er vor wenigen Wochen gerettet hatte. Vielleicht hatte das alles doch einen Sinn.
Das gleiche schoß in diesem Augenblick Sandy durch den Kopf. Doris war unschuldig, ein wirkliches Opfer von Kräften, in deren Gewalt sie geraten war. Ohne Kelly wäre sie jetzt tot. Nichts sonst hätte sie retten können. Andere hatten dafür sterben müssen, aber - aber was?
»Vielleicht war es doch Eddie«, meinte Piaggi. »Ich hab ihm gesagt, er soll sich mal umhören, aber er behauptet, er hätte nichts rausgekriegt.«
»Und seit du mit ihm gesprochen hast, ist nichts mehr passiert. Fast so wie früher«, erwiderte Henry. Damit sagte er Anthony Piaggi nichts, was der nicht bereits wußte, und formulierte auch gleich noch eine Schlußfolgerung, die der andere ebenfalls schon in Betracht gezogen hatte. »Und wenn er nur ein bißchen Wind machen wollte, um sich aufzuspielen, Tony?«
»Möglich.«
Das führte zum nächsten Gedanken. »Ich möchte wetten, wenn Eddie auf Reisen geht, hat dieser Spuk ein Ende.«
»Glaubst du, er will abhauen?«
»Alles andere ergibt keinen Sinn.«
»Wenn Eddie was zustößt, könnten wir Ärger kriegen. Ich glaube nicht, daß -«
»Das laß mal meine Sorge sein. Ich habe eine todsichere Methode.«
»Dann erzähl mir davon«, forderte Piaggi ihn auf. Zwei Minuten später nickte er zustimmend.
»Warum sind Sie hergekommen?« fragte Sandy, als Kelly und sie den Tisch abräumten. Sarah brachte Doris nach oben, damit sie sich ausruhen konnte.
»Ich wollte mal nach Doris sehen.« Aber das war eine Lüge, und keine besonders gute.
»Sie sind einsam, nicht wahr?« Kelly brauchte lange für seine Antwort.
»Ja.« Sie zwang ihn, sich dieser Tatsache zu stellen. Ein Leben in Einsamkeit entsprach keineswegs seinen Vorstellungen. Es war ihm vom Schicksal und von seinem eigenen Wesen aufgezwungen worden. Jedesmal, wenn er sich jemandem genähert hatte, war etwas Schreckliches passiert. Zwar stiftete die Rache an den Verantwortlichen so etwas wie einen Sinn, doch das reichte nicht aus, um die von ihnen geschaffene Leere zu füllen. Und nun zeichnete sich überdeutlich ab, daß ihn diese Taten von einem anderen Menschen entfernten. Wie hatte sein Leben nur so kompliziert werden können?
»Ich finde es nicht richtig, John, auch wenn ich es noch so sehr wünschte. Doris zu retten war eine gute Sache, aber nicht um den Preis von Menschenleben. Es müßte doch eine andere Möglichkeit geben -«
»Und wenn es die nicht gibt, was dann?«
»Lassen Sie mich bitte ausreden, ja?« bat Sandy.
»Entschuldigung.«
Sie strich ihm über die Hand. »Bitte, sehen Sie sich vor.«
»Das werde ich, Sandy, ganz bestimmt.«
»Das, was Sie jetzt vorhaben, das ist doch nicht... «
Er lächelte. »Nein, das ist ein richtiger Auftrag. Ganz offiziell.«
»Zwei Wochen?«
»Wenn alles nach Plan verläuft.«
»Und wird es das?«
»Manchmal, ja.«
Sie drückte seine Hand. »John, bitte, denken Sie mal darüber nach. Suchen Sie einen anderen Weg, und hören Sie damit auf. Sie haben Doris gerettet, und das ist wunderbar. Können Sie mit dem, was Sie erfahren haben, die anderen nicht ohne - ohne weiteres Blutvergießen
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