01 - Gnadenlos
zusätzliche Sicherheit, und erst als sie Haggerstown hinter sich gelassen hatten, atmete sie auf und begann, die Fahrt zu genießen. Schließlich waren die Aussichten, in einem fahrenden Auto erkannt zu werden äußerst gering!
Die Fahrt verlief überraschend ruhig. Als sich in den letzten Tagen abgezeichnet hatte, daß sich Doris' Zustand fast völlig normalisieren würde, hatten sie alles genau durchgesprochen. Sie brauchte noch immer Unterstützung bei ihrem Drogenentzug, vor allem aber brauchte sie die Hilfe eines Psychiaters. Aus diesem Grund hatte Sarah sich mit einer Kollegin von der ausgezeichneten medizinischen Fakultät in Pittsburgh in Verbindung gesetzt, einer Frau in den Sechzigern, die schnell begriffen hatte, daß sie der Polizei nichts berichten sollte, da diese Sache bereits in anderen Händen lag. Sarah und Sandy konnten spüren, wie Doris sich zusehends anspannte. Darüber hatten sie mit ihr gesprochen. Doris kehrte in ein Zuhause und zu einem Vater zurück, die sie verlassen hatte, nur um ein Leben zu führen, das sie beinahe mit dem Tod bezahlt hätte. Ihr neues Leben würde noch viele Monate lang von Schuldgefühlen bestimmt sein, die zum Teil berechtigt, zum Teil aber auch unberechtigt waren. Sie hatte noch nicht begriffen, wieviel Glück sie gehabt hatte, denn schließlich war sie überhaupt noch am Leben. In zwei oder drei Jahren, wenn ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstachtung wiederhergestellt sein würden, konnte sie ein ganz normales Leben führen, so daß niemand ihre Vergangenheit erraten oder ihre vernarbenden Wunden bemerken würde. Wieder gesund, würde das Mädchen wie ausgewechselt sein, nicht nur ihrem Vater zurückgegeben, sondern auch der Welt der ganz normalen Bürger.
Vielleicht würde sie sogar gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgehen, dachte Sarah, vorausgesetzt, die Psychiaterin ließ ihr Zeit und ging vorsichtig zu Werke. Dr. Michelle Bryant genoß einen hervorragenden Ruf, und Sarah hoffte, er war berechtigt. Das war für sie immer das schwerste an ihrem Beruf, dachte sie, während sie mit einer Geschwi ndigkeit leicht über dem Limit nach Westen brauste. Sie mußte ihre Patienten gehen lassen, bevor sie völlig wiederhergestellt waren. Durch ihre klinische Arbeit mit Drogenabhängigen war sie daran gewöhnt, doch wie in diesem Fall auch, waren sie noch lange Zeit auf Hilfe angewiesen. Und trotzdem kam immer der Zeitpunkt, an dem man seine Patienten gehen lassen mußte und nur hoffen und darauf vertrauen konnte, daß sie ihre Sache gut machen würden. So ähnlich mußten sich Eltern bei der Hochzeit ihrer Kinder fühlen, dachte Sarah. Doch in diesem Fall hätten die Umstände viel schlimmer sein können. Der Vater hatte am Telefon vernünftig geklungen, und Sarah brauchte keinen Abschluß in Psychiatrie, um zu wissen, daß Doris jetzt mehr als alles andere den Kontakt zu einem anständigen und liebevollen Mann brauchte, damit sie irgendwann später einmal eine ähnliche Beziehung eingehen konnte, die ihr Leben lang halten würde. Zwar waren dafür jetzt andere verantwortlich, doch das hielt Sarah nicht davon ab, sich Sorgen um ihre Patientin zu machen. Jeder Arzt hat etwas von einer besitzergreifenden Mutter an sich, und in diesem Fall war es besonders schwer für sie, sich zurückzuhalten.
Die Straßen waren steil in Pittsburgh. Doris dirigierte sie am Monongahela River entlang und dann in eine Straße nach rechts. Plötzlich, Sandy suchte bereits die richtige Hausnummer, wurde sie nervös. Und dann waren sie da. Sarah zog mit dem Buick in eine Parklücke, und alle holten noch einmal tief Luft.
»Ist alles in Ordnung?« fragte sie Doris, die verängstigt nickte.
»Er ist Ihr Vater, Kleines. Er liebt Sie.«
An Raymond Brown war nichts Bemerkenswertes, stellte Sarah im nächsten Augenblick fest. Er mußte seit Stunden an der Tür gewartet haben, und auch er war nervös, als er die rissigen Betonstufen herunterkam und sich mit zitternden Händen am Geländer abstützte. Er öffnete die Autotür und half Sarah mit einer unbeholfenen Geste heraus. Dann griff er ins Innere, und obwohl er sich bemühte, tapfer zu sein und die Fassung zu bewahren, brach er in Tränen aus, als er seine Tochter berührte. Doris stolperte beim Aussteigen, und ihr Vater fing sie auf und zog sie in die Arme.
»Oh, Daddy!«
Sandy O'Toole wandte sich ab, nicht um ihre Rührung zu verbergen, sondern um den beiden einen ungestörten Augenblick zu gönnen.
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