01 - Gnadenlos
jemand unterwegs war. Nicht weniger als hundert Soldaten hielten ihre jeweiligen Stationen besetzt, und viele andere bevölkerten im Verlauf ihrer unbedeutenderen Wartungsarbeiten die nur schwach erleuchteten Gänge. Außerdem hielt sich ein Teil der Mannschaft noch immer in den Messen auf und war mit Lesen oder Briefeschreiben beschäftigt.
Kelly trug einen gestreiften Kampfanzug, auf dessen Namensschild Clark angegeben war. Irgendwelche Rangabzeichen hatte er nicht. In den Augen der Mannschaft wurde er damit zu »Mr. Clark«, einem Zivilisten, und man munkelte bereits, er sei vom CIA - was dazu führte, daß ein JamesBond-Witz aufgetischt wurde, wann immer er zu sehen war. Die Matrosen machten ihm Platz, wenn er ihnen in den Gängen begegnete, und grüßten ihn mit einem respektvollen Nicken, das er erwiderte, innerlich schmunzelnd, daß er hier den Rang eines Offiziers genoß. Zwar wußten nur der Kapitän und sein Stellvertreter, was es mit der Mission auf sich hatte, aber die Seeleute waren schließlich auch nicht dumm. Man schickte kein Schiff die ganze Strecke von Dago bis hierher, um einen kleinen Zug Marines zu unterstützen, wenn es dafür nicht verdammt gute Gründe gab. Und diese hartgesottenen Kerle, die da an Bord gekommen waren, sahen aus, als würde John Wayne bei ihrem Anblick lieber respektvoll einen Schritt zurückweichen.
Kelly ging ans Flugdeck. Außer ihm waren dort noch drei Männer unterwegs. Die Constellation lag nach wie vor am Horizont, und noch immer starteten oder landeten die Bomber, deren Positionslampen mit den Sternen um die Wette funkelten. Nach einigen Minuten hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Weit über ihm drehten sich unter dem Summen der Elektromotoren die Radarantennen, doch das dominierende Geräusch war das Zischen, mit dem der Stahl das Wasser zerteilte.
»Mein Gott, ist das schön«, sagte er laut zu sich selbst.
Kelly kehrte in die Decksaufbauten zurück und suchte sich seinen Weg zur Einsatzzentrale. Dort fand er Captain Franks, der wie so viele Kapitäne offensichtlich keinen Schlaf brauchte.
»Ausgeruht?« erkundigte sich der Kommandeur.
»Jawohl, Sir.« Kelly blickte auf den Radarbildschirm und zählte die Schiffe, die die Formation TF-77 bildeten. Viele Lichtpunkte tanzten auf dem Monitor, denn auch Nordvietnam besaß eine Luftwaffe und könnte eines Tages auf dumme Gedanken kommen.
»Welches ist das AGI?«
»Unser russischer Freund liegt hier.« Franks zeigte auf das größte Display. »Der macht das gleiche wie wir. Die Leute von der elektronischen Aufklärung bei uns an Bord werden ihren Spaß mit ihm haben«, fuhr der Kapitän fort. »Normalerweise sind sie auf der Suche nach kleinen Schiffen. Wir müssen ihnen wie die Queen Mary vorkommen.«
»Ja, es ist wirklich groß«, gab Kelly zu. »Und auch ziemlich leer.«
»Stimmt. Wir wollten keine Reibereien zwischen meinen Jungs und euch Marines riskieren. Wollen Sie einen Blick in die Karten werfen? Ich habe in meiner Kajüte einen ganzen Packen unter Verschluß.«
»Keine schlechte Idee, Captain. Kann ich dazu auch Kaffee haben?«
Franks' Innenkabine war ausgesprochen komfortabel. Ein Steward brachte Kaffee und das Frühstück. Kelly faltete die Karte auseinander und studierte den Flußlauf, den er hinaufschwimmen würde.
»Hübsch und tief«, bemerkte Franks.
»Zumindest so weit, wie ich ihn brauche«, stimmte Kelly ihm zu. »Unser Ziel liegt genau hier.«
»Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen.« Er zog einen Zirkel aus der Tasche und maß die Distanz.
»Wie lange sind Sie schon in diesem Geschäft?«
»Als Navigator bei der Navy?« Franks lachte. »Tja, nach zweieinhalb Jahren haben sie mich aus Annapolis raus- und ins kalte Wasser geschmissen. Ich wollte einen Zerstörer, also gab man mir ein Landungsboot in der ersten Reihe, Stellvertretender Kommandeur, damit es nicht ganz so schlimm ist. Die erste Landung war in Peleliu. In Okinawa war ich dann schon Kommandeur. Und dann kamen Ichon, Wonsan und der Libanon. Tja, ich habe mir schon an verdammt vielen Stränden die Farbe vom Kiel gekratzt. Glauben Sie...?« Fragend blickte er auf.
»Einen Fehlschlag können wir uns nicht leisten, Captain.« Kelly hatte sich derweilen jede einzelne Biegung des Flusses in Erinnerung gerufen. Dennoch blickte er unverwandt weiter auf die Karte, eine genaue Kopie derjenigen, die er in Quantico studiert hatte. Er suchte irgendeine Veränderung, fand aber keine.
»Gehen Sie allein rein, Mr. Clark?
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