01 - Gnadenlos
Gewehrfeuer auch nicht aus. Ohne Gehirn, ohne Augen zog sie weiter ihre Bahn, ganz so wie eine Spielzeugeisenbahn unter einem Weihnachtsbaum, während deren frischgebackener Besitzer in der Küche frühstückt. Sie wurde natürlich überwacht; ein EC-121 Warning Star spürte die 193 aus der Entfernung mittels eines codierten Radarsenders auf der Rückenflosse auf.
»Weiter so, Baby«, flüsterte ein Major, während er seinen Radarschirm beobachtete. Er wußte über die Mission Bescheid, wußte, wie wichtig sie war und warum niemand sonst davon wissen durfte. Neben ihm lag der Ausschnitt einer topographischen Landkarte. Die Drohne drehte an der richtigen Stelle nach Norden, sank auf hundert Meter, als sie das richtige Tal fand, und folgte einem kleinen Flußlauf. Die Leute, die sie programmiert hatten, verstanden jedenfalls etwas von ihrem Geschäft, dachte der Major.
Die 193 hatte mittlerweile ein Drittel ihres Treibstoffs verbrannt und verbrauchte nun die restliche Menge in der geringen Höhe sehr rasch, als sie unterhalb der von ihr ungesehenen Hügelrücken links und rechts dahinflog. Die Programmierer hatten ihr Bestes getan, aber dann gab es doch noch einen brenzligen Moment, als ein Windstoß sie nach rechts abdrängte, bevor der Autopilot korrigieren konnte, und die 193 einen ungewöhnlich hohen Baum um gerade mal 20 Meter verfehlte. Genau auf dem Hügel saßen zwei Milizposten, schossen ihre Gewehre auf sie ab, aber wieder verfehlten die Patronen ihr Ziel. Einer der beiden stürzte den Hügel hinunter zu einem Telefon, aber sein Kamerad rief ihn zurück, als die 193 blind weiterflog. Bis der Anruf entgegengenommen werden würde, wäre das feindliche Flugzeug schon längst über alle Berge, und außerdem hatten sie ihre Pflicht ja erfüllt, indem sie es beschossen hatten. Er machte sich Sorgen, wo ihre Geschosse wohl gelandet waren, aber dafür war es jetzt zu spät.
Oberst Robin Zacharias von der U.S. Air Force ging über den dreckigen Boden dessen, was zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen vielleicht ein Aufmarschgelände genannt werden konnte, aber hier fanden keine Aufmärsche statt. Seit sechs Monaten war er ein Gefangener, jeder neue Tag war ein Kampf und konfrontierte ihn mit einem Elend, das schrecklicher und hoffnungsloser war als alles, was er sich je hatte vorstellen können. Er war auf seiner 89. Mission schon auf dem Heimflug abgeschossen worden. Eine voll und ganz erfolgreiche Mission, die durch reines Pech zu einem blutigen Ende gebracht worden war. Schlimmer noch, sein »Bär« war tot. Womöglich hat er das glücklichere Los gezogen, dachte der Colonel als er von zwei kleinen, unfreundlichen Männern mit Gewehren über das Gelände geführt wurde. Die Arme hatte man ihm auf den Rücken gebunden, und seine Knöchel waren so gefesselt, daß er gerade noch gehen konnte, denn sie hatten trotz ihrer Gewehre Angst vor ihm. Und um ganz sicher zu gehen, wurde er auch noch von Männern in den Wachtürmen beobachtet. Für diese kleinen Scheusale muß ich echt furchterregend aussehen, sagte sich der Kampfpilot.
Zacharias fühlte sich nicht sehr gefährlich. Sein Rücken war vom Schleudersitzabsprung immer noch verletzt. Der Pilot war kampfunfähig auf dem Boden aufgeschlagen, und sein Bemühen, der Gefangennahme zu entgehen, war kaum mehr als ein Scheinmanöver gewesen, da er sich in fünf Minuten nur gute dreißig Meter vorangeschleppt hatte, direkt in die Arme der Geschützmannschaft, die seinen Flieger zu Schrott gemacht hatte.
Von da an war er mißhandelt worden, war in drei verschiedenen Dörfern vorgeführt, mit Steinen beworfen und bespuckt worden, bis er schließlich hier landete. Wo immer das auch war. Es gab Seevögel. Also war er vielleicht nahe am Meer, spekulierte der Oberst. Aber das Denkmal in Salt Lake City, einige Häuserblocks vom Haus seiner Kindheit entfernt, erinnerte ihn daran, daß da, wo Möwen waren, nicht unbedingt auch Meer sein mußte. In den vergangenen Monaten war er allen möglichen Mißhandlungen ausgesetzt gewesen, die aber seltsamerweise in den letzten paar Wochen nachgelassen hatten. Wahrscheinlich sind sie es leid geworden, mir weh zu tun, sagte sich Zacharias. Und vielleicht gibt es den Weihnachtsmann wirklich, dachte er, während er mit gesenktem Kopf auf den Dreck hinunterblickte. Einen kleinen Trost hatte er. Es gab noch andere Gefangene, aber seine Versuche, mit ihnen in Verbindung zu treten, waren alle fehlgeschlagen. Seine Zelle hatte keine
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