01 - Gnadenlos
vor etwas, aber was es ist, will sie nicht sagen.« Sie verstummte, dann entschied sie, daß Kelly davon wissen sollte. »Sie ist mißbraucht worden, John. Ich hab nicht danach gefragt - eins nach dem anderen - aber jemand hat ihr schwer zugesetzt.«
»Oh?« Kelly sah vom Sofa hoch. »Was meinst du damit?« »Ich meine, sie ist sexuell belästigt worden«, sagte Sarah mit ruhiger, berufsmäßiger Stimme, die im krassen Widerspruch zu ihren persönlichen Gefühlen stand.
»Du meinst, vergewaltigt?« fragte Kelly leise, während sich seine Armmuskeln anspannten.
Sarah nickte, unfähig, ihre Empörung länger zu verbergen. »So gut wie sicher. Wahrscheinlich nicht nur einmal. Es gibt auch Spuren von Gewalteinwirkung an Rücken und Gesäß.«
»Das habe ich nicht bemerkt.«
»Du bist kein Arzt«, beschied ihn Sarah. »Wie habt ihr euch kennengelernt?«
Kelly erzählte es ihr, während er sich an den Blick in Pams Augen erinnerte. Nun wußte er, woher er gekommen sein mußte. Warum war ihm das nicht aufgefallen? Warum waren ihm eine Menge Dinge nicht aufgefallen? Kelly packte die kalte Wut.
»Also hat sie auszureißen versucht... Ich frage mich, ob derselbe Mann sie auf Barbiturate gesetzt hat«, meinte Sarah.
»Wirklich feiner Kerl, wer es auch war.«
»Du meinst, irgend jemand hat sie in die Mangel genommen und drogenabhängig gemacht?« fragte Kelly. »Aber warum?«
»Kelly, krieg das jetzt bitte nicht in den falschen Hals... aber sie könnte eine Prostituierte gewesen sein. Zuhälter machen sich Mädchen auf die Art gefügig.« Sarah Rosen haßte sich selbst für ihre Worte, aber es war ihre berufliche Pflicht, und Kelly mußte Bescheid wissen. »Sie ist jung, hübsch und aus einer gestörten Familie ausgerissen. Der körperliche Mißbrauch, die Unterernährung, das paßt alles ins Bild.« Kelly sah zu Boden. »Aber sie ist nicht so eine. Ich versteh das nicht.« Aber irgendwie verstand er doch, sagte er sich, als er zurückdachte. Die Art, wie sie sich an ihn geschmiegt und ihn an sich gezogen hatte. Wieviel davon war nur eingeübt und wieviel echtes menschliches Gefühl gewesen? Es war eine Frage, die er sich nicht stellen wollte. Wie sollte er sich verhalten? Seinem Verstand folgen? Seinem Herzen folgen? Und wohin mochte das führen?
»Sie kämpft dagegen an, John, sie ist zäh.« Sarah setzte sich Kelly gegenüber. »Sie ist seit mehr als vier Jahren auf der Straße gewesen, hat Gott weiß was gemacht, aber etwas in ihr will nicht aufgeben. Aber sie schafft es nicht allein. Sie braucht dich. Ich muß dich jetzt etwas fragen.« Sarah blickte ihn scharf an. »Bist du bereit, ihr zu helfen?«
Kelly sah auf; seine blauen Augen waren eiskalt, während er sich über seine wahren Gefühle klarzuwerden suchte.
»Euch geht das alles sehr nahe, nicht?«
Sarah nahm einen Schluck von ihrem Drink. Sie war eine eher plumpe Frau, klein und übergewichtig. Ihr schwarzes Haar hatte seit Monaten keinen Friseur mehr gesehen. Sie war ganz die Art von Frau, die sich den Haß männlicher Fahrer zuzieht, wenn sie hinter dem Steuer eines Wagens sitzt. Aber sie sprach mit eindringlicher Leidenschaft, und über ihre Intelligenz hatte ihr Gastgeber schon lange keine Zweifel mehr. »Hast du eine Ahnung, wie schlimm es derzeit steht? Vor zehn Jahren war Drogenmißbrauch so selten, daß ich kaum damit zu tun gehabt habe. Sicher, ich hab davon gewußt, hab die einschlägigen Artikel gelesen, und hin und wieder hatten wir mal einen Heroinfall. Nicht sehr viele. Bloß ein Problem der Schwarzen, dachten die Leute. Da hat sich im Grunde niemand einen Dreck drum gekümmert.
Jetzt müssen wir für diesen Fehler bezahlen. Falls du es noch nicht bemerkt hast, das hat sich alles geändert - und es ist praktisch über Nacht eingetreten. Außer dem Projekt an dem ich zur Zeit arbeite, habe ich rund um die Uhr mit Jugendlichen zu tun, die sich mit Drogenproblemen herumschlagen. Ich bin dafür nicht ausgebildet worden. Ich bin Wissenschaftlerin, Expertin für Abwehrreaktionen, chemische Verbindungen, dafür, wie wir neue Medikamente entwickeln können, um bestimmte Wirkungen zu erzielen - aber inzwischen muß ich fast meine ganze Zeit mit klinischer Arbeit verbringen und versuchen, Kinder am Leben zu erhalten, die so gerade eben ihre ersten Erfahrungen mit dem Biertrinken machen sollten, aber statt dessen ihren Organismus voller chemischer Scheiße haben, die niemals aus einem gottverdammten
Weitere Kostenlose Bücher