01 - komplett
Langem liebte er sie mehr, als er jemals für möglich gehalten hätte.
„Wenn Miss Davencourt kommt, führen Sie sie bitte in mein Arbeitszimmer“, hatte er Perch aufgetragen.
Jetzt schlug die Uhr zehn Mal, und bisher hatte niemand den Türklopfer betätigt.
Fleet wurde nervös. Vielleicht hatte das kalte Bad Clara doch mehr geschadet, als er angenommen hatte. Vielleicht musste sie mit einer schlimmen Erkältung das Bett hüten. Vielleicht war es besser, wenn sie nicht kam. Dann könnte er am nächsten Tag London wie geplant verlassen, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Er würde Perch mit einem großen Blumenstrauß und den besten Genesungswünschen zum Collett Square schicken und ...
„Miss Davencourt, Euer Gnaden.“
Perch hatte die Tür geöffnet und ließ Clara eintreten. Sie sah ein wenig blass aus, machte jedoch keinen kranken Eindruck. Rasch rückte Sebastian ihr einen Stuhl zurecht. „Sie hätten heute Abend daheim bleiben sollen“, sagte er. „Sie haben einen Schock erlitten und sich womöglich eine Erkältung zugezogen. Ich hoffe nur ...“ Er unterbrach sich, weil ihm bewusst wurde, dass er auf sie einredete wie ein dummer Schuljunge.
Tatsächlich blitzten ihre Augen amüsiert auf. „Mir geht es gut“, stellte sie fest. „Ich bin hergekommen, um mich bei Ihnen zu bedanken. Wohin waren Sie heute Nachmittag nur so schnell verschwunden?“
Er zuckte die Schultern. Selten hatte er sich so unbehaglich gefühlt. Ehe Clara ins Zimmer trat, war er davon überzeugt gewesen, er könnte das Gespräch nach seinen Wünschen lenken. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Zwischen ihnen hatte es nie ein Gleichgewicht der Kräfte gegeben. Lange war er der Stärkere gewesen. Das schien sich nun geändert zu haben. Eine unangenehme Vorstellung ...
„Weiß Martin, dass Sie hier sind? Vermutlich wird er, nachdem er uns in der Bibliothek von Davencourt House überrascht hat, ziemlich ...“
Sie unterbrach ihn. „Niemand weiß, wo ich bin. Ich habe mich aus dem Haus geschlichen, als alle glaubten, ich schliefe schon.“
Ihr Geständnis amüsierte und erschreckte ihn. Es war so typisch für sie, sich durch nichts und niemanden von dem abbringen zu lassen, was ihr wichtig erschien. Wenn sie sich dadurch bloß nicht immer wieder in Gefahr bringen würde! Verflixt, gab es denn niemanden, der sie vor sich selbst schützte?
Sie rutschte auf dem Stuhl ein wenig nach vorn, schaute ihm fest in die Augen und fragte: „Wollen Sie wirklich morgen abreisen?“
„Ja.“ Er wandte den Blick ab. Doch aus den Augenwinkeln sah er, wie dieses lebendige Leuchten schwächer wurde, das stets von ihr ausging und das er so sehr an ihr liebte.
„Ich hatte gehofft“, sagte sie leise, „Sie würden Ihre Pläne ändern. Wir alle würden Ihnen so gern danken für das, was Sie für mich getan haben.“
„Sind Sie deshalb hergekommen, Clara? Um mir Ihren Dank auszusprechen?“
Sie biss sich auf die Unterlippe, und ihre Wangen röteten sich. „Nein, ich bin gekommen, um Sie daran zu erinnern, dass ich Sie liebe.“
Er hob den Kopf und betrachtete sie nachdenklich. Ihre klaren Augen verrieten keine Nervosität. Ihr fein geschwungener Mund lud zum Küssen ein. Sie war das schönste Wesen, das er je gesehen hatte, und die ehrlichste, mutigste Frau, die er sich vorstellen konnte. Wie sehr er sie bewunderte! Schmerzhaft wurde er sich der Tiefe seiner Liebe zu ihr bewusst. Dann folgte der noch größere Schmerz der Verzweiflung.
Er war ihrer nicht würdig.
Jetzt fuhr sie sich mit der Zunge über die Oberlippe, ein Zeichen dafür, dass sie doch nicht so ruhig und ausgeglichen war, wie sie sich zu geben versuchte. Auf ihrer Stirn erschienen ein paar kleine Sorgenfalten.
„Liebste Clara ...“ Sebastian räusperte sich. Zum Teufel, auch ihm konnte man anmerken, dass er nervös war. Dabei wollte er doch um jeden Preis überlegen und distanziert erscheinen. Er durfte seine wahren Gefühle nicht verraten. „Ich bringe Ihnen, wie Sie wissen, die größte Achtung entgegen.“
Sie bewegte sich so rasch, dass er keine Chance hatte, sie aufzuhalten. Schon kniete sie vor ihm. Die Seide ihres Kleides raschelte, als sie die Hand hob, um sie auf sein Knie zu legen. „Es ist sinnlos zu lügen. Was Sie für mich empfinden, Sebastian, geht weit über Wertschätzung und Achtung hinaus.“ Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. „Sie sind ein Feigling, wenn Sie versuchen, Ihre Liebe zu mir zu leugnen.“
Er beugte sich vor, um ihr auf
Weitere Kostenlose Bücher