01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
wissen lassen, wann sein Bruder sicher unter der Erde ist«, sagte Lord Wentwater trocken. »Es mag Ihnen schwer fallen, so etwas nachzuvollziehen, Chief Inspector, aber Astwicks Verhältnis zu seiner Familie hat mich in keinster Weise von meinen Verpflichtungen dieser Familie gegenüber entbunden. Sie haben bei Scotland Yard bestimmt auch unliebsame Kollegen, mit denen Sie trotzdem verkehren müssen.«
Das stimmte, aber die lud er sich auch nicht nach Hause ein, protestierte Alec im Stillen. Und selbst der unangenehmste Kandidat hatte nie seiner Frau nachgestellt, ganz davon zu schweigen, daß er sie erpreßt hätte. War es möglich, daß der Graf Astwicks Verhalten gegenüber wirklich so blind war, wie seine Schwester glaubte?
»Die Gesetze der Gastfreundschaft haben Vorrang vor dem natürlichen Wunsch nach einer treuen Ehefrau?« fragte er. Er versuchte die Frage wie schlichte Neugier klingen zu lassen und nicht wie ein unverschämtes Aushorchen.
»Astwick war nicht der Liebhaber meiner Frau!« Die Wut in Lord Wentwaters Stimme war nicht überzeugend, und zum ersten Mal im Laufe der Befragung hielt er Alecs Blick nicht stand. Seine Mundwinkel zuckten.
Eine direkte Lüge schien nicht zum Wesen des Grafen zu passen. Während Alec sich für seine Taktlosigkeit entschuldigte, fragte er sich, ob der Graf vielleicht gerade versuchte, sich selbst in eben demselben Maße von Lady Wentwaters Treue zu überzeugen wie seinen Befrager. Er war ein stolzer Mann und würde sich nicht leicht eingestehen, daß er gehörnt worden war. Möglicherweise war er auch ein gütiger Ehemann, der zunächst von der Unschuld seiner Frau ausging. Vielleicht war er aber auch schlicht ein alter Mann mit einer jungen Frau, der es als den unvermeidlichen Lauf der Dinge akzeptierte, daß sie Liebhaber hatte.
Nein, kein alter Mann. Er war ungefähr fünfzehn Jahre älter als Alec, er war das kraftstrotzende Ergebnis eines aktiven, gesunden Lebens auf dem Lande. Er sah durchaus robust genug aus, um eine junge Frau glücklich zu machen - und auch robust genug, um ein Loch ins Eis zu schlagen.
Alec rieb sich die Augen. Gott, was würde er um eine Pfeife und eine Tasse Kaffee oder sogar Tee geben! Aber Lord Wentwater konnte er nicht darum bitten, genausowenig wie er ihn fragen konnte, ob er mit seiner Frau ein Schlafzimmer teilte. Gott sei Dank bekam Tring diese außerordentlich bedeutsame Information wahrscheinlich gerade von der Dienerschaft mitgeteilt.
Ohne Zweifel würde der Sergeant außerdem gerade in Tee und Kuchen schwelgen. Aus irgendeinem unerklärlichem Grund löste er bei allen Köchinnen einen besonderen Reflex aus, was man seiner Figur ja auch ansah.
Hartnäckig fuhr Alec fort, den Grafen zu befragen. Er hatte das Gefühl, den roten Faden dieser Untersuchung verloren zu haben, oder vielmehr, ihn nie in der Hand gehabt zu haben.
Seine Fragen und die Antworten darauf erschienen ihm gleichermaßen irrelevant, und er wünschte, Miss Dalrymple wäre da, um sie mit ihm zu besprechen. Mit ein bißchen Glück würde sich alles klären, sobald er mit Lady Wentwater gesprochen hatte. Andererseits war es genauso gut denkbar, daß ihre einzige Verbindung zu Astwicks Tod darin bestand, Gegenstand der Aufmerksamkeiten zu sein, die Lady Marjories Eifersucht angestachelt hatten.
Warum hatte dieser Tod Lady Marjorie so sehr erschüttert, daß sie gleich Beruhigungsmittel hatte nehmen müssen? Brach der Verlust eines Mannes, den sie zutiefst geliebt hatte, ihr das Herz? Oder war sie schlicht entsetzt darüber, daß der Streich, mit dem sie sich hatte rächen und ihn ärgern wollen, ihn das Leben gekostet hatte?
»Ich vermute, dieses Spielchen hat jetzt ein Ende?« fragte Lord Wentwater ungeduldig.
Alec schrak zusammen. Er hatte es wohl versäumt, auf eine Antwort mit einer weiteren Frage zu reagieren. »Ich habe im Moment keine weiteren Fragen mehr, Sir«, sagte er. »Würden Sie mir freundlicherweise erlauben, Astwicks Schlafzimmer zu durchsuchen?«
»Wenn es sein muß.«
»Außerdem muß ich noch mit Lady Wentwater sprechen und mit Lady Marjorie, die aber heute nicht ansprechbar ist, wenn ich das recht verstanden habe. Ich werde morgen also noch einmal herkommen müssen. Mein Constable bleibt in der Zwischenzeit hier. Leider muß ich darum bitten, daß vor meiner Rückkehr niemand Wentwater verläßt.«
»Bitte sehr.« Lord Wentwater schien sich damit abgefunden zu haben, daß die Untersuchung noch andauern würde.
Entweder war er
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