01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
Da sollte ich Ihnen wohl berichten, daß es Südwind gibt und daß wir wohl noch vor dem Morgen Tauwetter haben werden.«
»Danke sehr, das ist gut zu wissen. Glücklicherweise haben wir dank Miss Dalrymple ausgezeichnete Photographien davon. Nun denn, es hat wohl keinen Sinn, daß Sie nach einer Axt suchen. Ich bin mir sicher, daß in den Nebengebäuden mehrere herumliegen, und kein Mensch wird gestern Abend ohne Handschuhe aus dem Haus gegangen sein, nur um uns Fingerabdrücke zu bescheren. Und jetzt lösen Sie mal Miss Dalrymple ab.«
»Sir!« Augenblicklich hatte Piper Block und Bleistift in den Händen.
»Aber ich will doch gar nicht abgelöst werden«, protestierte Daisy. Der einschüchternde Blick, den er ihr zuwarf, von dunklen, unheilvollen Augenbrauen intensiviert, entmutigte sie. Aber da grinste er. »Fast hätte ich vergessen, daß Sie ja gar nicht einer meiner Beamten sind. Ich danke Ihnen für Ihre gute Arbeit, Miss Dalrymple, aber im Moment helfen Sie mir am meisten, wenn Sie Ihre Notizen abtippen. Ich verspreche auch, nicht abzufahren, ohne Ihnen zu erzählen, wie die Dinge stehen.«
Sie zog eine Grimasse. »Na ja, in Ordnung. Ich versuche mal, alles fertig zu haben, ehe Sie gehen. Machen Ihnen Rechtschreibfehler viel aus? Ich tippe schneller, wenn ich mir über die Rechtschreibung keine Gedanken machen muß.«
»Solange ich noch erraten kann, was die verstümmelten Worte heißen sollen.«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Also dann für's erste Cheerio.«
Piper eilte vor, um ihr die Tür zu öffnen. Bevor er jedoch dort ankam, ging sie schon auf, und Lord Wentwater trat ein. Mit seiner üblichen ernsten Höflichkeit hielt er Daisy die Tür auf.
Während sie zur Treppe ging, merkte Daisy, daß sie eigentlich ganz froh war, von ihren Protokoll-Pflichten entbunden zu sein. Den Grafen achtete sie sehr, und sie wollte nicht zugegen sein, wenn er die Dinge erklärte oder sich verteidigte - oder sich gar selbst in die Sache verstrickte.
Alec wäre froh gewesen, diese Pflicht umgehen zu können.
Keine Sekunde glaubte er an eine angeborene Überlegenheit des Adels. Der bösartige James Beddowe hätte ihn ohnehin längst von dieser Illusion befreit. Was Alec jedoch ärgerte, war die Tatsache, daß andere sie für überlegen hielten, waren der Einfluß, den sie aufgrund ihrer Geburt hatten, und ihr unerschütterliche Glaube an ihre eigene Wichtigkeit.
Lord Wentwater hatte niemals sein Recht auf eine besondere Behandlung bezweifelt, davon war Alec überzeugt. Dennoch mußte er die ruhige Würde und eiserne Selbstbeherrschung des Grafen bewundern. Unmöglich, sich vorzustellen, wie dieser distinguierte Gentleman auf den Knien lag und das Eis mit einer Axt bearbeitete.
Doch wußte Alec aus Erfahrung, daß Männer, die von Eifersucht und Haß befallen sind, zu Taten fähig sind, die sie sich nie hätten träumen lassen.
So führte er Lord Wentwater denn sanft an den Platz, auf dem er ihn haben wollte. Mehr als bei seinen anderen Tatverdächtigen war es bei dem Grafen unerläßlich, jede Andeutung einer Regung seiner Miene mitzubekommen.
Piper setzte sich unauffällig auf die Fensterbank, die auch Miss Dalrymple beherbergt hatte, und Alec setzte sich dem Grafen gegenüber, ohne von ihm dazu aufgefordert worden zu sein. Hier hatte er das Heft in der Hand. »Würden Sie mir bitte sagen, was Sie von Stephen Astwick hielten, Sir?« bat er.
»Ich bin mir sicher, daß Sie es mittlerweile schon von anderen gehört haben, Chief Inspector«, sagte Lord Wentwater ruhig. »Der Mann war ein Erzgauner.«
»Und doch haben Sie ihn in Ihrem Hause bewirtet.«
Lord Wentwater preßte die Lippen aufeinander. »Sie wissen zweifellos, daß Astwick der Bruder des Marquis von Brinbury ist. Brinbury und ich haben zusammen studiert, wir sind Mitglieder desselben Clubs, und wir sitzen beide im House of Lords. Astwick hat auch einigen dieser Clubs angehört. Ich hätte ihn zwar nie nach Wentwater eingeladen, aber es wäre ein unglaublicher Affront gewesen, ihn zur Abreise aufzufordern.«
»Soweit ich weiß, hat ihn seine Familie enterbt. Ist sie schon von seinem Ableben informiert worden?« Das hätte Alec schon vor langer Zeit besorgen müssen. Wenn doch die Tage nur mehr Stunden hätten! Zwei Nächte ohne Schlaf holten ihn plötzlich genau im falschen Moment ein, und heute nacht würde es bestimmt auch keine vollen acht Stunden geben.
»Ich habe Brinbury angerufen.«
»Und was sagt der Marquis?«
»Ich soll ihn
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