01 - Nacht der Verzückung
geklammert - sie hatte sich
geweigert, dieses Wissen aufzugeben.
Jetzt,
an diesem Morgen, kannte sie sich nicht mehr. Wer war Frances Lilian Montague?
Wie konnte nur jener ernste, gut aussehende Mann - mit blauen Augen wie
sie - ihrer Vater
sein? Wie konnte eine Frau, deren Initiale mit der seinen auf dem Medaillon
verschlungen war, ihre Mutter sein?
Sie
waren sehr bald nach ihrer Trauung getrennt worden, der Herzog, der ihr Vater
war, und die Frau, die ihre Mutter war. Lily wusste, was das bedeutete. Sie
kannte den Schmerz der Sehnsucht und der Einsamkeit, den diese Frau erlitten
haben musste. Und sie hatten sich geliebt. Lily war in Liebe empfangen worden,
hatte der Herzog gestern Abend erklärt. Sie hatten sich geliebt und waren für
immer getrennt worden. Ihr gemeinsames Kind war für einen ursprünglich nur als
kurzfristig geplanten Zeitraum bei den Menschen gelassen worden, die zu Lilys
Eltern geworden waren.
Mama
und Papa, die sie so von Herzen geliebt hatten, wie es Eltern nur tun konnten.
Die
Frau, ihre Mutter, musste sie ebenfalls geliebt haben. Lily stellte sich vor,
wie sie sich gefühlt hätte, wenn sie nach ihrer Trennung von Neville ein Kind
erwartet hätte. 0 ja, ihre Mutter hatte sie geliebt. Und über zwanzig Jahre
lang war es dem Herzog, ihrem Vater, nicht möglich gewesen, weder seine Frau
loszulassen noch seine Überzeugung, dass irgendwo sie, Lily, existierte.
Sie
wollte nicht Lady Frances Lilian Montague sein. Sie wollte nicht, dass der
Herzog von Portfrey ihr Vater war. Sie wollte, dass ihr Papa der Mann war, der
sie gezeugt hatte. Aber es war die Wahrheit, ob sie es wollte oder nicht. Und
sie konnte nicht aufhören, daran zu denken, dass, während sie achtzehn Jahre
lang den besten Papa der Welt gehabt und drei Jahre lang seit seinem Tod ihre
Erinnerungen an ihn gepflegt hatte, der Herzog von Portfrey die ganze Zeit
ohne sein Kind gewesen war. All die Jahre, die für sie so voller Liebe gewesen
waren, waren für ihn leer gewesen.
Er war
ihr Vater. Sie versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, ohne davor
zurückzuschrecken. Der Herzog von Portfrey war ihr Vater. Und Papa hatte immer
gewollt, dass sie es letztendlich erfuhr. Er und Mama hatten ihr das Medaillon
gegeben, damit sie es ihr Leben lang tragen sollte, und Papa hatte immer darauf
bestanden, dass sie seinen Tornister zu einem Offizier bringen müsse, sollte er
in der Schlacht fallen. Sie wusste nicht, weshalb er die Wahrheit so lange vor
ihr verborgen und warum er nicht versucht hatte, mit dem Herzog von Portfrey
Kontakt aufzunehmen. 0 doch, sie wusste, warum. Sie konnte sich erinnern, wie
ihre Mama sie vergöttert hatte, wie ihr Vater sich benommen hatte, als ob mit
ihr die Sonne auf- und unterging. Sie hatten sich nicht in der Lage
gesehen, sie aufzugeben, und hatten zweifellos tausend gute Gründe gefunden,
die dagegen sprachen. Papa hatte vorgehabt, es ihr zu sagen, wenn sie volljährig
wurde. Sie war sicher, dass er das vorgehabt hatte.
Lily
kam zu dem Schluss, dass sie über seine Absichten oder Motive niemals letzte
Sicherheit erlangen würde. Aber zwei Dinge wusste sie. Papa hatte nicht
beabsichtigt, ihr die Wahrheit für immer zu verheimlichen. Und Papa hatte sie
geliebt.
Es war
gar nicht so schlecht, dachte sie plötzlich, die Tochter eines Herzogs und die
Enkelin eines Barons zu sein. Sie hatte davon geträumt, Neville ebenbürtig zu
sein, und hatte geglaubt, dass sie es in allem außer in Geburt und Vermögen
sein könnte.
Sie
lächelte gequält.
Elizabeth
hatte sich vor Lily fertig angezogen im Morgensalon eingefunden - ein
seltenes Ereignis. Sie erhob sich, nahm Lilys Hände und küsste sie auf beide
Wangen, bevor sie ihr forschend ins Gesicht sah.
»Lily«,
sagte sie, »wie geht es dir, mein Liebes?«
»Wach«,
sagte Lily. »Ganz wach.«
»Du
wirst ihn heute Morgen empfangen?« Elizabeth klang ausgesprochen besorgt. »Du
musst es nicht, wenn du dich nicht dazu in der Lage siehst.«
»Ich
werde ihn empfangen«, sagte Lily.
Eine
Stunde später traf er ein, als sie im Salon saßen und an ihren Stickereien
arbeiteten - oder zumindest so taten. Er folgte dem Butler auf dem Fuße,
machte eine Verbeugung und blieb dann zögernd in der Nähe der Tür stehen, als
habe er plötzlich all seinen Mut verloren.
»Meine
Güte, Lyndon«, sagte Elizabeth und eilte zu ihm, »was ist passiert?«
»Ein
unglückliches Zusammentreffen mit einer Tür?« Er betonte die Worte wie eine
Frage, als wolle er vorsichtig erinnern,
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