01 - Nacht der Verzückung
zu
zwingen, mich zu empfangen. Pass auf sie auf.«
»Euer
Gnaden.« Lily sprach zum ersten Mal, seit Neville den Raum betreten hatte.
Portfrey und Elizabeth wirbelten herum, um sie anzusehen. Ach werde Euch
empfangen ... morgen.«
»Danke.«
Er lächelte nicht, aber er sah sie erneut an, als wolle er sie verzehren. Er
machte eine förmliche Verbeugung und wandte sich zur Tür.
»Wartet
auf mich, Portfrey, ja?«, fragte Neville. »Ich werde gleich bei Euch sein.«
Seine
Gnaden nickte und verließ mit Elizabeth die Bibliothek.
Neville
erhob sich und half Lily auf. Er legte seine Arme um sie und zog sie an sich.
Was musste es für ein Gefühl sein, fragte er sich, plötzlich herauszufinden,
dass die innig geliebten Eltern nicht der wahre Vater und die wahre Mutter
waren? Er versuchte sich vorzustellen, er würde das von seinen Eltern erfahren.
Er würde sich seiner Wurzeln beraubt fühlen, ohne Anker. Er würde ... Furcht
empfinden.
»Ich
möchte, dass du das Fest vergisst«, erklärte er ihr, »und hinauf auf dein
Zimmer gehst. Läute nach Dolly und geh zu Bett. Versuche zu schlafen. Wirst du
das tun?«
»Ja«,
sagte sie.
Es tat
ihm weh, sie so teilnahmslos zu sehen, so gefügig wie ein gehorsames Kind. So
gar nicht wie Lily. Aber Portfrey hatte Recht. Sie hatte einen tiefen Schock
erlitten. Genau so hatte sie sich in den Stunden nach Doyles Tod verhalten.
»Versuche,
heute Nacht nicht zu viel nachzudenken«, sagte er. »Morgen wird es dir leichter
fallen, dich auf die neue Situation einzustellen. Ich glaube, letztendlich
wirst du erkennen, dass du nichts verloren hast. Es ist eine Sache, sich.um ein
Kind von eigenem Fleisch und Blut zu kümmern. Aber es ist etwas ganz anderes,
das Kind eines anderen zu lieben und zu umsorgen, für das man im Grunde nicht
verantwortlich ist. Und genau das haben deine Mama und dein Papa für dich
getan. Ich kannte deine Mama nicht, aber ich habe immer darüber gestaunt, dass
ein Vater eine solch hingebungsvolle, zärtliche Liebe für seine Tochter empfinden
konnte, wie sie dein Vater für dich empfand. Du hast sie nicht verloren. Du
hast nur Menschen gefunden, die dich in Zukunft lieben und für dich sorgen
werden, ohne auf die Vergangenheit eifersüchtig zu sein.«
»Ich
bin so unendlich müde«, sagte sie und hob ihr Gesicht zu ihm -ihr
bleiches Gesicht mit den großen Augen. »Ich kann nicht geradeaus denken -
und auch nicht um die Ecke.«
»Ich
weiß.« Er senkte den Kopf, um sie zu küssen, und sie erwiderte den Kuss mit
einem Seufzen und hob die Arme, um sie um seinen Hals zu schlingen.
Er
hatte sie auf seiner Reise nach Leicestershire furchtbar vermisst. Und er war
krank vor Sorge um ihre Sicherheit gewesen, besonders nachdem er den Brief
gelesen hatte. Ihren kleinen, wohlgeformten Körper wieder an seinem zu spüren,
ihre Arme um seinen Hals und ihre Lippen, die an seinen hafteten, erweckte in
ihm Gelüste, die ihn zu überwältigen drohten. Aber sie war nicht in der
Verfassung für Leidenschaft. Außerdem hatte er sich heute Nacht einer Sache
von schwer wiegender Wichtigkeit zu widmen -und Portfrey wartete auf ihn.
»Geh
nun zu Bett, meine große Liebe«, sagte er, hob den Kopf und umrahmte mit beiden
Händen ihr Gesicht. »Ich sehe dich morgen.«
»Ja«,
sagte sie. »Morgen. Vielleicht kann ich morgen wieder denken.«
Kapitel 24
Lily erwachte aus
einem tiefen Schlaf, als die Morgensonne schon durch ihr Fenster schien. Sie
schlug die Decken zurück und sprang aus dem Bett, wie sie es oft tat, und
reckte sich. Was war das für ein seltsamer Traum gewesen! Sie konnte sich im
Moment nicht einmal genau daran erinnern, aber sie wusste, dass er grotesk
gewesen war.
Sie
hielt mitten in der Bewegung inne.
Und
erinnerte sich. Es war kein Traum gewesen.
Sie war
nicht Lily Doyle. Papa war nicht ihr Vater. Sie war auch nicht Lily Wyatt,
Gräfin von Kilbourne. Sie war Lady Frances Lilian Montague, eine völlig Fremde.
Sie war die Tochter des Herzogs von Portfrey. Ihr Großvater war Baron Onslow.
Für
einen Augenblick drohte ihr Verstand, sich wieder in die Benommenheit des
gestrigen Abends zu flüchten, aber das würde zu nichts führen. Sie kämpfte
gegen die Panik an.
Wer
war sie?
Endlose
sieben Monate lang in Spanien hatte sie gekämpft, sich ihre Identität zu
bewahren. Es war nicht leicht gewesen. Alles hatte man ihr genommen, ihre Kleider,
ihr Medaillon, ihre Freiheit, ihren Körper. Und dennoch hatte sie sich an das
fundamentale Wissen um ihre eigene Person
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